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Franz Winter | Hat neben Gottes Allmacht der freie Wille noch Platz?
spielsweise folgende Aussage interpretiert werden (Sure 16,93): „Aber er
[sc. Gott] führt irre, wen er will, und leitet recht, wen er will“ (vgl. auch
Sure 6,125; 13,27). Dem steht wiederum eine (allerdings recht singuläre)
Aussage gegenüber, die man als Plädoyer gegen eine Vorherbestimmung
interpretieren könnte (Sure 13,11): „Gott verändert nichts an einem Volk,
solange sie (d. h. die Angehörigen dieses Volkes) nicht (ihrerseits) verän-
dern, was sie an (?) sich haben.“
Es gibt aber auch Aussagen, in denen göttliche Leitung oder eben Miss-
leitung das Ergebnis von zuvor liegenden guten oder schlechten Taten des
Menschen sind (vgl. etwa Sure 2,26; 3, 86; 16,104) oder aber davon abhän-
gig gemacht werden, ob der Mensch sich Gott anvertraut (vgl. Sure 16, 104;
90,9–10). Andere Kontexte wiederum stellen in den Raum, dass die Ent-
scheidung zwischen Glaube und Unglaube von Menschen selbst gemacht
wird, während Gott ihnen nur Leitung (hudā) gibt (Sure 18,29; 41,17; 6,125;
vgl. auch 4,31). Diese grundsätzliche Ambivalenz resp. Unklarheit tritt
deutlich in folgender Stelle entgegen (Sure 76,29–31): „Dies ist eine Er-
innerung. Wer nun will, (nimmt sie sich zu Herzen und) schlägt einen Weg
zu seinem Herrn ein. / Aber ihr wollt nicht, es sei denn, Gott will es. Gott
weiß Bescheid und ist weise. / Er lässt in seine Barmherzigkeit eingehen,
wen er will. Für die Frevler aber hat er eine schmerzhafte Strafe bereit“ (zur
Interpretation im größeren Kontext der Sure vgl. die Angaben zur Stelle bei
Nasr 2017).
In gewisser Weise stoppt der Koran an dieser Stelle und fragt beispielswei-
se nicht, wie Gott diejenigen strafen kann, die er selbst vom rechten Weg
abgebracht hat, oder ob er nicht möglicherweise die Quelle aller Misse
taten
der Menschen ist, was wiederum dessen Prädikat als Gerechter in Frage
stellen würde. Genau das war die Rätselaufgabe, die die nachfolgenden Ge-
nerationen zu lösen hatten: Wie lässt sich der Widerspruch zwischen einer
angenommenen Prädestination, noch dazu durch einen als „gerecht“ prä-
dikatisierten Gott, und der eigentlich vorausgesetzten ausschließlichen
Selbstverantwortung des Menschen beim Letzten Gericht auflösen?
Es gibt aber auch Aussagen, in denen göttliche Leitung das Ergebnis
von zuvor liegenden guten oder schlechten Taten des Menschen ist.
Eine Rätselaufgabe für die nachfolgenden Generationen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven