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Herbert Hrachovec | Omnipräsenz / Telepräsenz
Auge Gottes in Zeiten der Überwachung“ (Tück 2014). Göttliche Attribute
(Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart) werden nun auch für menschliche
Eigenschaften übernommen und erweisen sich in diesem Zusammenhang
als problematisch. „Die Speicherung heikler Daten [...] könnte als Usurpa-
tion des göttlichen Blicks, der alles sieht, als Säkularisat des Gedächtnisses
Gottes [...] gedeutet werden.“ (Tück 2014) Bereits die scholastischen Qua-
lifikationen Gottes waren bedenklich, ihre Übernahme in den Sprachschatz
des „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2019) verstärkt die Skepsis. Gott
als Richter im Endgericht wird, diese Assoziation drängt sich auf, unter
Umständen (siehe General Qassem Soleimani) durch den US-amerikani-
schen Präsidenten ersetzt (2020 Baghdad International Airport airstrike).
Tück arbeitet den Unterschied zwischen den biblischen Aussagen und dem
Kontrollgehabe heraus, das in der christlichen Katechese nicht selten zu
finden war, sich aber im real existierenden Luftraum zur Lebensgefahr
entwickelte. Der Richter sei zugleich der Retter, der – so seine abschlie-
ßende Pointe – nach Psalm 31,5 aus dem Fangnetz der Feinde befreit.
Die drei zitierten Annäherungen von Omnipräsenz und Telepräsenz sind
Homiletik. Motive von alltäglichem Belang werden mit Glaubenswahr-
heiten verknüpft. Die verbindende Spange ist „man kann sich vorstellen“.
Dar über hinaus lässt sich aber auch insistieren: Was ist nun Sache, abge-
sehen von der Flexibilität bildlicher Zuschreibungen? Eine historisch-sys-
tematische Stellungnahme stammt von Hartmut Böhme. Cyberspace, so
statuiert einer seiner Aufsatztitel, ist „Die technische Form Gottes“ (Böh-
me 1996a). Die Formulierung verpflichtet zur Buchstäblichkeit und Böhme
legt eine These vor. Gott bilde eine „eigene Sphäre des Immateriellen jen-
seits der Welt der Körper [...], doch so, dass er immer in sie einwirken, in
ihr erscheinen oder sich aus ihr zurückziehen kann“ (Böhme 1996b, 6).10
Und er setzt hinzu: „Meine Behauptung ist, dass damit die Metaphysik und
die hintergründigen Funktionen des Cyberspace beschrieben sind.“ (Böh-
me 1996b, 6) Die scholastische Bewegungsfreiheit Gottes mündet in die
Konvertibilität zweier metaphysischer Themenkreise. „[D]ie allerneuesten
Techniken [sind] im Licht vergangener Theologoumena und Mythologeme
zu interpretieren“ (Böhme 1996b, 5), die umgekehrt einen „tiefenstruktu-
rellen Antrieb“ (Böhme 1996b, 8) der heutigen Entwicklungen bilden.
10 Dieser Gedanke ist in der Einlei
tung 1 bei Augustinus hervorgehoben
und durch den Hinweis auf „geisti-
ges Eigentum“ plausibilisiert wor-
den: Bücher, Bilder und Musikstücke
sind materiell verwirklicht und
reichen in eine immaterielle Sphäre,
die in die Welt der Körper wirkt.
Göttliche Attribute werden für menschliche Eigenschaften übernommen
und erweisen sich in diesem Zusammenhang als problematisch.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven