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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
Dazu nur ein Beispiel: Die rabbinische Bewegung legte (u. a. im Talmud-
traktat Chullin) fest, dass man entweder die Hände waschen und die Zäh-
ne gründlich vom Fleisch säubern oder zwischen einem Fleischgericht und
einem Milchgericht eine Pause einlegen sollte, um sie nicht unabsichtlich
zu vermischen. Im Mittelalter bürgerte es sich in sefardischen Gemeinden
ein, sechs Stunden zu warten. Maimonides etwa hielt es (in Mischne Tora,
Ma’achalot Assurot 9.26) für richtig, diese Zeitspanne einzuhalten, damit
das Fleisch, das man nicht durch Waschen und Zähnereinigen entfernen
kann, verdaut ist. Die Tosafisten hingegen, die aschkenasischen Gelehrten
in der Nachfolge des bedeutenden Gelehrten Raschi aus Troyes, betonten,
dass keine Zeitspanne nötig sei, sofern der Mund gereinigt wird; von sechs
Stunden ist überhaupt keine Rede. Über die Jahrhunderte hielt sich diese
Praxis in den aschkenasischen Gebieten. Josef Qaros (1488–1575) Geset-
zeswerk Schulchan Aruch übernahm die sefardische Regel und Moses Isser-
les (Rema/u, 1525–1572), der den Schulchan Aruch in den aschkenasischen
Gemeinden verbindlich machte, hielt schließlich (in seinem Kommentar
zum Abschnitt Jore De‘a 89,1) fest, dass es in Aschkenas üblich sei, nur
eine Stunde zu warten. Nur manche würden es genauer nehmen und sechs
Stunden warten, was er für die angemessene Vorgangsweise hielt. Hier
wird die Präferenz bereits deutlich. Sein Zeitgenosse Salomon Luria (Ma-
harschal, um 1510–1573) formulierte es allerdings noch klarer und meinte,
dass die, welche sich nicht an die sechs Stunden hielten, lax seien, wäh-
rend die Frommen bis zum Abend ihre Hände von einem Käsegericht lassen
würden, wenn sie am Morgen Fleisch gegessen hätten. Er bezeichnete diese
Frommen schließlich als Kinder der Tora und hielt es für angebracht, die
anderen zu verurteilen (Jam schel Schlomo zu Chullin 8.9).
Was demnach bis dato ein angesehener Brauch war und sowohl von der
rabbinischen Tradition als auch den aschkenasischen Gelehrten unter-
stützt wurde, verkam nun zu einer laxen Praxis, ja geradezu zu einer Art
Missachtung der Tora.
Die Abgrenzung von fromm gegenüber lax ist eine Form der Distanzierung
von anderen, die vor allem innerhalb der eigenen Gruppe Bedeutsamkeit
erlangt. Tatsächlich verlief schon in der rabbinischen Literatur der Gra-
ben nicht nur zwischen Juden und Nichtjuden, sondern auch zwischen den
(rabbinisch) gebildeten Juden und den Am Ha’aretz, den Ungebildeten, de-
nen man u. a. auch im Hinblick auf die Speisegebote nicht traute. Mitunter
Die Abgrenzung von fromm gegenüber lax
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven