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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von IdentitÀt und DiversitÀt im (rabbinischen) Judentum
der Schluss verbunden, dass jene, die es mit dem Lernen nicht genau neh-
men, auch in Speisefragen als nachlÀssig erlebt werden.
In einer mehrfach in Varianten erzĂ€hlten Geschichte ĂŒber die AnfĂ€nge des
Studiums des bedeutenden Rabbi Eliezer wird berichtet, dass er, der erst
mit fast dreiĂig Jahren zu lernen beginnen wollte, solange kein Essen zu
sich genommen hatte, bis Rabbi Jochanan ihn Tora lehrte14 (vgl. Pirqe de-
Rabbi Eliezer 1â2; Avot de-Rabbi Natan A 6.22-32; Avot de-Rabbi Natan B
13.4-21; Genesis Rabba 42.1; Tanchuma B Lech Lecha 10). Eliezer sehnt sich
eben nach der wahren Speise. Dabei kommt einem leicht der Spruch aus
dem Mund Jesu in den Sinn: âDer Mensch lebt nicht vom Brot allein, son-
dern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommtâ (Mt 4,4), der
seinen Ursprung in Dtn 8,3 hat:
âDurch Hunger hat er dich gefĂŒgig gemacht und hat dich dann mit dem
Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine VĂ€ter nicht
kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von
Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des
Herrn spricht.â
Hierzu heiĂt es im Midrasch Sifre Dtn § 48:
ââDer Mensch lebt nicht vom Brot alleinââ das bezieht sich auf den Mi-
drasch; âsondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommtâ â
das bezieht sich auf Halakha und Haggadaâ.
Speisen und GetrÀnke sind also weit mehr als nur Dinge, die unsere Le-
bensfunktionen irgendwie aufrechterhalten. Vielmehr spiegelt der Um-
gang mit ihnen das Bewusstsein fĂŒr das groĂartige Geschenk des Lebens.
Man anerkennt die Heiligkeit und Besonderheit Gottes, indem man seine
Speisegebote achtet und sich an sie hÀlt, man kann durch sie die IdentitÀt
der Gruppe stÀrken und sich von anderen abheben. Man kann Speisen und
GetrÀnke metaphorisch und symbolisch anreichern.
14 Rabbi Eliezers Schicksal ist von
den AnfÀngen bis zum Ende mit der
Symbolik des Essens verbunden. Zu-
erst einmal fastet er, bis er die rich-
tige Nahrung, die Tora, bekommt.
Dann urteilt er ĂŒber einen Ofen
gegen die Mehrheit der Rabbinen,
wird dafĂŒr letztlich gebannt, straft
daraufhin die Welt mit DĂŒrre, und
kurz vor seinem Tod beschreibt er
den Rabbinen seine Lehren ĂŒber das
magische Anpflanzen von Gurken
etc. (vgl. u. a. Talmud Bava Metzia
59ab; Sanhedrin 68a).
Speisen und GetrÀnke sind mehr als nur Dinge,
die unsere Lebensfunktionen aufrechterhalten.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven