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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
10 Recht und Ethos
Essen und Trinken werden in der jüdischen Tradition nicht in erster Li-
nie aus gesundheitlichen Erwägungen diskutiert – auch wenn diese nicht
fehlen15 –, sondern haben stärker mit der spezifischen Gottesbeziehung
des Volkes Israel zu tun, mit der Definition und Bewahrung von Identität
nach außen und der Diskussion um sie innerhalb der Gemeinschaft. Schon
die Bibel verbindet die Speisegebote eng mit anderen Identitätsmarkern,
die das Besondere Israels bestimmen sollen und vor allem die Bereiche des
Ethos und des Rechts betreffen.
Hier kann man beispielhaft Lev 19 nennen, wo die Heiligkeit Israels als
Nachahmung der Heiligkeit Gottes betont wird. Dabei wird zuerst die Ach-
tung der Eltern erwähnt, danach der Schabbat, das Verbot von Götzen-
dienst, worauf Regelungen zum Schlachten folgen, zur Ernte eines Fel-
des und eines Weinbergs mit Berücksichtigung der Armen und Fremden,
danach geht es gegen Betrug und Ausbeutung, um gerechtes Richten, um
die Vermeidung von Hass und das verantwortungsvolle Umgehen mit dem
Nächsten, den man wie sich selbst lieben soll. Darauf folgen Regelungen
gegen verbotene Mischungen bei Tieren und Saaten und bei der Kleidung,
um verbotene Beziehungen und um die Pflanzungen von Fruchtbäumen,
die danach drei Jahre lang nicht geerntet werden dürfen. Blut wird unter-
sagt, die richtige Bartpflege erwähnt, verschiedene Bestimmungen wer-
den getroffen, die Israel von Praktiken fernhalten sollen, die irgendwie mit
Fremdgötterdienst verbunden sind. Dann folgen wieder Regelungen zur
Ehre von Älteren, von Fremden, zum gerechten Umgang im Handel und
auf dem Markt. Insgesamt ist das Buch Levitikus ein wunderbares Beispiel,
wie man das gesamte Leben in all seinen Bereichen, vom ganz Persönlichen
bis zum Gottesdienst, unter dem Aspekt der Heiligkeit zu begreifen und zu
beschreiben sucht, wobei die Speisegebote einen nicht geringen Beitrag
leisten. Auch die Rabbinen verstehen sie immer wieder im Zusammenhang
mit dem richtigen ethischen Verhalten. Dafür dient auch ein bestimmter
Begriff: tzeniut. Er bezeichnet den idealen Habitus des Gelehrten. Die Über-
setzungen für tzanua mit „fromm“, „bescheiden“ oder „züchtig“ oder die
heute oft anzutreffende Beschränkung auf sittsame Kleidung treffen nur
einen kleinen Teil dessen, was die Rabbinen meinten. Im außertalmudi-
15 Der Aspekt der Gesundheit spielt
etwa bei Maimonides eine große
Rolle (vgl. seinen Führer der Verwirr-
ten III 48) und wird immer wieder
aufgegriffen. Für das liberale Juden-
tum bildeten vor allem die gesund-
heitlichen Erwägungen Gründe, die
Speisegebote nicht gänzlich zu ver-
werfen. Man sucht das gesamte Leben unter dem Aspekt
der Heiligkeit zu begreifen und zu beschreiben.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven