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Ulvi Karagedik | Ansätze für eine islamische Speiseethik gemäß den islamischen Primärquellen Koran und Hadith
Somit gelten Speisen, die beispielsweise durch Diebstahl, Betrug oder un-
rechtmäßigen Verdienst aufgebracht wurden, als ebenso tabu wie etwa der
Konsum von Alkohol. Es ist in diesem Fall die damit einhergehende Scha-
densverursachung, welche die Reinheit der Speisen verhindert. Jene ethi-
sche Grundlage ist einleuchtend sowie leicht nachvollziehbar und stellt
mit ein wichtiges Prinzip für die Nahrungsmittelbeschaffung der meisten
Muslim:innen dar.
In der Gegenwart zeichnen sich jedoch weitaus größere, völlig neue und
zumeist unbeachtete Schadensdimensionen im Lebensmittelhandel sowie
der Produktion ab. So gilt es, die Analogie der Schadensabwendung neu zu
beurteilen, wenn heute oft eine kriminelle Produktion und Beschaffung
(bekannt als Food Crime) – etwa von Avocados, Fisch, Kaffee oder Toma-
ten – praktiziert wird. Internationale Kartelle und die organisierte Krimi-
nalität prägen den Handel sowie die Herstellung von Lebensmittelproduk-
ten negativ (vgl. Pohlmann 2020), so dass letztere in Anbetracht der darge-
stellten Prinzipien aus Sicht des Islams als genauso problematisch (ḥarām)
zu werten sind wie Diebesware. Durch Unfair Trade werden Menschen in
anderen Regionen der Welt ihre Anbauflächen oder Nahrungsmittelres-
sourcen weggenommen, Hungerlöhne, die Ausbeutung der Arbeiter oder
gar Menschenhandel gefördert. Diese Problematik ist jedoch vielen gar
nicht bewusst, da die Produktions- und Handelsprozesse unzähliger Wa-
ren im Supermarkt oder Discounter nicht ersichtlich sind. Dies ist ein Um-
stand, der es aus theologischer Sicht für Muslim:innen erforderlich macht,
auf Fair-Trade-Siegel genauso zu achten wie auf Ḥalāl-Zertifikate.
3.3 Die Umweltproblematik
Gemäß der islamischen Ethik stellt der Mensch die Krone der Schöpfung
dar: Gott schuf den Menschen nach seinem Antlitz (vgl. Al-Buḫārī: istiḏān,
6227; 246; Muslim: Birr, 2612; 152; 6325; an-Nasāʾī: 1126; 98; 1127),
hauchte ihm von seinem Geiste ein (vgl. Koran, 38: 72), machte ihn zum
Statthalter auf Erden (vgl. Koran, 6: 165; 10: 14; 35: 39) und vertraute ihm
die Erde an (vgl. Koran, 33: 72). Der Mensch, welcher auch das Potenzial
besitzt, auf niederträchtigste Art herabzusinken (vgl. Koran, 95: 5), wird
also vom Koran dazu angehalten, die Schöpfung Gottes zu bewahren, ver-
In der Gegenwart zeichnen sich neue Schadensdimensionen
im Lebensmittelhandel und in der Produktion ab.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven