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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
Einführung
Schon, wenn zwei Menschen an einem Tisch zusammenkommen, ge-
schieht Rituelles. Wer übernimmt die Rolle des Gastgebers oder der Ver-
sorgerin? Wer serviert, wer empfängt die Speisen und Getränke? Was wird
an einem Wochentag angeboten, was an einem Festtag? Wie wird der Tisch
gedeckt? Wer sitzt wo? Wer bekommt zuerst? Wenig von dem, was am ge-
meinschaftlichen Tisch geschieht, wird dem Zufall überlassen.
Sollte es sich um ein gemeinsames Mahl außerhalb des privaten Kontexts
handeln, kommt das Rituelle umso mehr zum Vorschein. Das Festessen bei
einer Abiturfeier, ein Hochzeitsmahl, ein Staatsbankett mit hochgestell-
ten diplomatischen Würdenträger:innen – alle diese Mähler folgen einer
bestimmten Dramaturgie und sind Inszenierungen, die die Bedeutung des
Anlasses symbolisch darstellen, die Identität der Teilnehmenden abbilden
oder festigen und die Gemeinschaft als solche stärken. Bei einer Abiturfeier
sind die Abiturient:innen und ihre Eltern sowie die Lehrer und Lehrerinnen
eingeladen, die die jungen Erwachsenen mit der Übergabe der Zeugnisse in
die Gemeinschaft derer mit Hochschulreife aufgenommen haben und nun
diesen Anlass fröhlich und meist mit einem Glas Sekt und einem Trink-
spruch feiern. Das neuvermählte Paar sitzt bei einem Hochzeitsmahl vorn
und im Zentrum des Geschehens, meist umgeben von den Eltern zu beiden
Seiten, den Zusammenschluss zweier Familien symbolisierend. Bei einem
Staatsbankett sind sowohl die Abläufe als auch die Speisen und die Sitzord-
nung streng ritualisiert und meist von Zeremonienmeistern orchestriert,
um das Verhältnis zwischen den beteiligten Staaten und ihren Vertreter:in-
nen angemessen abzubilden.
Rituale spielen dann die größte Rolle, wenn es sich beim gemeinschaft-
lichen Mahl um ein religiöses handelt. Die Mähler der Mysterienkulte,
Mähler im Zusammenhang mit dem Totenkult, die jüdischen Festmähler
wie das Sedermahl, die christliche Eucharistie bzw. das heilige Abend-
mahl sind Beispiele für religiöse rituelle Mähler, bei denen die Kommu-
nikation mit dem Heiligen und innerhalb der Gemeinschaft wichtiger ist
als die Nahrungsaufnahme, die bestenfalls einen zweiten Rang einnimmt
oder gänzlich zum Symbol wird (vgl. Bergmann 2016b). Auch religiöse
Mähler etablieren Gemeinschaft, miteinander und mit der Gottheit, und
Beim gemeinsamen Mahl geschieht Rituelles – insbesondere
dann, wenn es sich um ein religiöses Mahl handelt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven