Seite - 94 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
Bild der Seite - 94 -
Text der Seite - 94 -
92 | www.limina-graz.eu
Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
der marokkanischen adafina, in der irakischen chamim: alles Eintöpfe aus
Fleisch, Bohnen und Gemüsen, die den lokalen Gegebenheiten und verfüg-
baren Grundnahrungsmitteln angepasst sind. In der Moderne wurde für
diese Vielfalt, die identitätsbildend ist, auch der Begriff des kulinarischen
Judentums geprägt, der jedoch die rituelle Tiefe und Bedeutung des ge-
meinschaftlichen Speisens im Judentum nur anreißt (vgl. dazu Bergmann
2016b).
Dabei ist noch von besonderer Bedeutung, dass Rituale durch Personen,
durch menschliche Körper, ausgeführt werden müssen und dass sich ihre
Wirksamkeit besonders dann entfaltet, wenn menschliche Körper in mög-
lichst vielen Facetten in ihnen aktiv werden. Die Mahlzeit als Gemein-
schaftsritual erfüllt genau diesen Ruf nach Leiblichkeit auf besondere
Weise: Alte Speisetraditionen werden so im wahrsten Sinne des Wortes bei
den Mahlteilnehmer:innen verinnerlicht, geschichtliche Ereignisse im er-
innernden Festmahl in Körper eingeschrieben, traditionelle (Glaubens-)
Erkenntnisse in neue Körper einverleibt, neue Menschen in den Körper der
Gemeinschaft aufgenommen, vielleicht sogar eine Gottheit oder ein Aspekt
von ihr im heiligen Mahl verzehrt, sodass sie selbst oder ihre Essenz nun im
menschlichen Körper zu finden ist. So wird man durch das, was man isst, zu
dem, der man ist, um das Zitat des berühmten französischen Gastrosophen
aus dem 18. Jahrhundert, Jean Anthelme Brillat-Savarin, aufzugreifen.
Berichte von Mählern in literarischer Form sind oft keine historischen Do-
kumente, sondern eher eine Art Tendenzliteratur, in der die Intentionen
der Autor:innen gespiegelt werden. Sie sind, wie Katherine Dunbabin für
die antike Mahlpraxis gezeigt hat,
„often misleading as sources for contemporary practice, filled as they are
with satirical exaggeration and with archaizing and idealizing referen-
ces; and all authors, even those that give the greatest appearance of ob-
jectivity, write with their own biases“ (Dunbabin 2003, 3–4).
So erzählt beispielsweise Polyainos’ Bericht vom großen Appetit des Ky-
ros weniger über den persischen König als über die Männlichkeit und den
Kriegserfolg von Alexander dem Großen, der Kyros’ Verhalten fragwürdig
findet (vgl. Polyainos, Strategika IV.3.32, in Brodersen 2017, 301–303). Des-
Die Mahlzeit als Gemeinschaftsritual erfüllt
den Ruf nach Leiblichkeit auf besondere Weise.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven