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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
nehmen von Speisen und Einhalten von Mahlzeiten jüdische Identität be-
gründen, bestärken und über die Zeiten hinweg tragen.3
3 Mahlrituale in Situationen, in denen gemeinschaftliches Speisen
nicht möglich ist
Wulf und Zirfas beschreiben die Attraktivität von Ritualen in der modernen
Kultur folgendermaßen:
„Rituale erscheinen nun nicht mehr als irrationaler Ausdruck von Mys-
terien kultischen Ursprungs oder als Medium einer zum Irrationalismus
geronnenen instrumentellen Vernunft totalitärer Systeme, sondern als
lebenswichtige Scharniere, die durch ihren ethischen und ästhetischen
Gehalt eine unhintergehbare Sicherheit in den Zeiten der Unübersicht-
lichkeit gewähren sollen“ (Wulf/Zirfas 2004, 7).
Diese Aussage betrifft jedoch nicht nur die Moderne, sondern auch ver-
gangene Kulturen, die, nicht weniger reich an Unübersichtlichkeiten und
Unwägbarkeiten, Rituale und besonders Mahlrituale nutzen, um Gemein-
schaft zu schaffen und zu stärken. Mahlrituale verschwinden nicht, auch
dann nicht, wenn gemeinsames Speisen nicht mehr stattfindet oder aus
verschiedensten Gründen eingeschränkt wird. Dies soll nun an zwei kon-
kreten Fallbeispielen exemplarisch untersucht werden.
a) Texte des frühen Judentums: Mähler in der Kommenden Welt imaginieren
Geschichtlicher Kontext
Die jüdische Geschichte ist durchzogen von Brüchen. Zwei Mal wurde das
zentrale Heiligtum in Jerusalem zerstört: durch die Truppen Nebukadnez-
zars im Jahr 587/6 v. u. Z. und durch die Römer im Jahr 70 u. Z. Mehrfach
gab es Exilserfahrungen: in der Antike unter den Assyrern ab 722 oder 720
v. u. Z. und unter den Neubabyloniern in den Jahren ab 597 und 587/6 v. u. Z.
Das Leben in der Diaspora schien eher die Regel als die Ausnahme. Auch als
es nach der Neueinweihung des Tempels im Jahr 515 v. u. Z. eine Reihe von
Rückwanderungsbewegungen aus dem Exil ins Kernland gab, war die Dias-
pora in der Antike noch nicht beendet. Große Teile der Bevölkerung blieben
in Babylon zurück, auch gibt es Hinweise auf eine jüdische Kolonie auf der
3 Dass gemeinschaftliches Mahl-
geschehen größten Einfluss auf die
Etablierung und Festigung von Ge-
meinschaft hat, kommt auch in au-
ßerbiblischen Texten deutlich zum
Tragen. Im rabbinischen Denken
setzt sich die Auseinandersetzung
mit solchen Fragen in immer bunte-
ren Farben und Ausmalungen bis in
das Mittelalter und darüber hinaus
fort, Beispiele in Rosenblum 2020.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven