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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
in dieser Debatte ein schwergewichtiges Argument (siehe dazu Orthodox
Union 2020 sowie die Zusammenfassung bei Zuckier 2020).
Ganz unabhängig von den gelehrten Diskussionen, ob und wie eine Se-
derfeier virtuell durchzuführen sei, wurden diese in kleinen und großen
Gruppen, inoffiziell in Familien oder offiziell in größeren Organisationen
zu Pessach 5780 vielfach durchgeführt.19 Im Betrachten dieser tatsächlich
durchgeführten virtuellen Rituale wird deutlich, für wie wichtig gemeinsa-
mes Speisen auch heute erachtet wird. In der Praxis stellte sich heraus: Die
liturgische und rituelle Schönheit oder Professionalität, die halachische
Korrektheit sind weniger wichtig, als dass das Ritual zusammen und in
Gemeinschaft durchgeführt wird. Wichtig war, dass zusammen gesungen
wurde, nicht, ob der Gesang synchron war und gut klang. Wichtig war, dass
zusammen gegessen wurde, nicht, ob die typischen Speisen verfügbar und
nach strengen Regeln auf dem Tisch arrangiert waren.
Fazit: Die reale Mahlgemeinschaft im kleinen Kreis wird
virtuell durchgeführt und erweitert
Auch im modernen Judentum wurde nur selten gefordert, die identitätsge-
staltenden Gemeinschaftsmähler zu Pessach 5780 oder an anderen Feier-
tagen zu beenden oder auszusetzen. Stattdessen wurde das gemeinsame
Mahl in die virtuelle Welt verlegt. Im Moment Magazine 2020 schreibt Amy
E. Schwartz, dass die Sederfeier, das wichtigste Gemeinschaftsmahl des Ju-
dentums, tatsächlich schon immer „virtual“ gewesen sei, denn
„All its rituals are intended, and perfectly designed, to transport us out
of our own time and place: As we taste the bitter herbs, dip greens in salt
water, recline to eat a luxurious meal, and all the rest, we declare that we
are not just remembering but reliving the Passover drama, as if it hap-
pened—or is happening—to us“ (Schwartz 2020).
Selbst in einer Krise wie der Pandemie fallen Mahlrituale nicht einfach aus,
werden sie nicht einfach gestrichen, kann man sie nicht ignorieren. Statt-
dessen werden Alternativen gesucht, um sie in modifizierter Weise durch-
zuführen. So schreibt Imber-Black:
„Rituals bent but did not break during COVID-19. New rituals were cre-
ated, designed, and invented that captured and expressed the current
19 Erfahrungsberichte aus den USA,
Israel und Deutschland finden sich
u. a. bei Oliver 2020; Kershner 2020;
Buckley/Anderson 2020; Strochlic
2020; Kniess 2020.
Selbst in einer Krise wie der Pandemie fallen Mahlrituale
nicht einfach aus, kann man sie nicht ignorieren.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven