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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
moment. Our rituals hold us, shape us, sustain us, and connect us“ (Im-
ber-Black 2020).
Folgerichtig war das von vielen beschriebene Erlebnis dann auch ein posi-
tives, wie die jüdische Ritualtheoretikerin Vanessa Ochs es in ihrer Vorle-
sung ausdrückt: „It is astonishing to me how much holiness we can create
through technology“ (Ochs 2020, etwa Minute 29).
Zusammenfassung
Rituale, vor allem gemeinschaftliche Mahlrituale, sind so wichtig, dass es
keine Alternative zu ihnen gibt. In beiden hier betrachteten Krisensitua-
tionen, als sich das frühe Judentum der Antike gegenüber dem attraktiven
Hellenismus und dem als Okkupant verstandenen römischen Reich be-
haupten musste und als sich das moderne Judentum innerhalb der Pan-
demie neu finden und liturgisch neu aufstellen musste, waren gemein-
schaftliche Mähler, die Identität schaffen und stärken, nicht ohne Weite-
res möglich. In beiden Fällen wurden die Gemeinschaftsmähler daraufhin
in die Imagination und das Virtuelle verlegt. Im frühen antiken Judentum
schufen Autoren, die von der Apokalyptik geprägt waren, genaue Vorstel-
lungen von einer Kommenden Welt, in der die Nöte dieser Welt verschwin-
den und das gemeinschaftliche Mahl mit fantastischen Speisen, am histo-
risch bedeutsamen Ort und mit wichtigen Identitätsfiguren durchgeführt
werden würde. Im modernen Judentum verlegten viele Gruppierungen und
Gemeinschaften das rituelle Gemeinschaftsmahl zu Pessach (und auch zu
anderen Feiertagen) in die virtuelle Welt.
Definiert man virtuell nun als etwas, was echt erscheint, denkbar und als
Möglichkeit vorhanden ist, wie das der Duden20 tut, verfolgten sowohl das
antike als auch das moderne Judentum ähnliche Strategien. War das für die
Gemeinschaft so bedeutsame Mahl in der Gegenwart und in der Realität, in
„dieser Welt“, nicht möglich, ließ man es nicht ausfallen, sondern verlegte
es in die Welten, die anderweitig denkbar und als Möglichkeit vorhanden
waren und sind, nämlich die Kommende Welt und die virtuelle Welt. Beide
Welten eröffnen Räume, die von den Schwierigkeiten der Gegenwart und
20 Vgl. https://www.duden.
de/rechtschreibung/virtuell
[21.05.2021].
Das für die Gemeinschaft so bedeutsame Mahl wurde und wird in die Welten verlegt,
die anderweitig denkbar und als Möglichkeit vorhanden waren und sind.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven