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Isabelle Jonveaux | Transfers des Fastens
Beim ganzheitlichen Fasten in Klöstern geht es nämlich auch um das all-
gemeine Wohlbefinden von Körper, Seele und Geist. Die Klöster entwickeln
sich auch in die Richtung von „Wohlbefinden-Angeboten“, die nicht nur
geistliche Angebote sind. Diese Bedeutungsverschiebung zeigt sich vor al-
lem darin, dass es sich um ein Fasten handelt, das nicht aus anderen als
körperlichen Gründen gebrochen werden kann. Demgegenüber sieht die
Benediktinerregel (53,10) vor, dass der Abt das Fasten bei der Ankunft eines
Gastes bricht. Im Rahmen des Buchinger-Fastens ist auch der Sonntag ein
Fastentag. So hat die Emmanuel-Gemeinschaft in Deutschland und Öster-
reich für die Fastenzeit 2021 angeboten, ein Buchinger-Lützner-Fasten
für zehn Tage zu erleben. Es wurde geklärt, dass in diesem Fall das Fasten
am Sonntag nicht gebrochen wird, obwohl der Sonntag für die Kirche kei-
ne Fastenzeit ist. Der erwartete körperliche Effekt dieses Fastens, der nur
dann wirksam ist, wenn das Fasten nicht gebrochen wird, scheint daher
liturgische Regeln zu überbieten.
Interessant ist auch, dass in den vorliegenden Fällen den Laien ein stren-
geres Fasten angeboten wird, als es im Kloster traditionell praktiziert wird.
Ernst Troeltsch unterscheidet in der Geschichte der christlichen Kirche
eine „doppelte Ethik“ (Troeltsch 1965, 105). Die von den „Virtuosen“ er-
wartete Askese wird von derjenigen unterschieden, die von den Laien er-
wartet wird:
„Die Kirche entwickelt dann eine doppelte Ethik: eine eher minimalis-
tische, die für den einfachen Menschen gut ist, und eine asketische, die
einer Elite von ‚religiösen Virtuosen‘ (im Weberischen Sinne) vorbehal-
ten ist.“ (Dianteill/Löwy 2005, 11; Übersetzung I. J.)11
Im aktuellen Fall scheint die strengste Askese aber von den Laien geübt zu
werden. Wir werden jedoch im nächsten Teil sehen, dass dieses strenge
Fasten auch Mönche und Nonnen betreffen kann.
Heilfasten als neue Klosteraskese?
Die im vorigen Abschnitt dargestellten Angebote sind für ein Publikum
außer halb des Klosters bestimmt. Aber was ist mit den Mönchen und Non-
Laien wird ein strengeres Fasten angeboten,
als es im Kloster traditionell praktiziert wird.
11 Im Original: „L‘éthique déve-
loppe ainsi une double éthique:
celle, assez minimaliste, bonne pour
le commun des mortels, et celle,
ascétique, réservée à une élite de
‘virtuoses religieux’ (au sens wébé-
rien).“
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven