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Mauthausen Survivors Documentation Project (2002/03) |
das bedeuten, dass die Bereitschaft und Fähigkeit, ihre Erfahrungen im KZ zu einer
(freien) Lebensgeschichte zusammenzubauen, auch davon abhängt, welchen Stel-
lenwert diese Verfolgungserfahrung bisher schon in ihrer Lebenswelt eingenommen
hatte. Auch bei Frauen, die um ihre Lebensgeschichte gebeten wurden, war oft die
erste Antwort, es gebe ja nichts zu erzählen, da sie nur in der Familie und abseits der
«Öffentlichkeit» gelebt hätten ; erst danach begannen sie, vor allem wenn sie aus wenig
literaten Schichten kamen, im Prozess des Interviews ihre Biografie zu erzählen, das
heiĂźt auch zu konstruieren.49
Die Interviewenden sollten nach unserem Schema durch «aktives Zuhören» (Inte-
resse und MitgefĂĽhl zeigen, durch Verstehen deutlich machen oder nur durch auffor-
derndes «Hmhm» etc.) die Interviewten zum Weitererzählen ermutigen, gleichzeitig
aber die Haupterzählung möglichst wenig durch Fragen unterbrechen, und zwar auch
dann nicht, wenn etwa die interviewte Person von der anfangs gewählten Chronologie
in der Erzählung abwich oder Geschichten wiederholte. Fragen nach dem Wer, Wann,
Wo, Wie und Warum sollten hintangestellt werden. Diese konnten, falls nötig, in der
zweiten Interviewphase erfolgen – eine zweifelhafte Entscheidung, da dadurch man-
ches im Detail ungeklärt blieb.
Erst nachdem die interviewte Person von sich aus mit ihrer Lebensgeschichte geen-
det hatte, sollten in der zweiten Phase eventuelle Unklarheiten oder WidersprĂĽche in
der Biografie und in der sonstigen Erzählung nachfragend geklärt werden, eine Phase,
die relativ wenig problematisch schien, jedoch aktuelle historische bzw. sozialwissen-
schaftliche Sachkenntnis vom KZ-System und von der nationalsozialistischen Verfol-
gung erforderte, was nicht immer der Fall war.50
In der dritten Phase sollten einzelne im Interview bereits angesprochene Themenbe-
reiche vertieft sowie bislang nicht thematisierte Aspekte und Fragestellungen von den
Interviewerinnen und Interviewern noch eingebracht werden. Auch hier war darauf zu
achten, dass wiederum erzählgenerierend gefragt wurde, also weniger nach damaligen
Haltungen oder Ereignissen geforscht, sondern eher versucht wurde, Geschichten, Epi-
soden, Anekdoten, Personenbeschreibungen, Konflikte etc. zu evozieren.
Inhaltlich wurden in den Interviews jedoch Schwerpunkte bei jenen Themenberei-
chen und Aspekten der Verfolgung, KZ-Haft und des Ăśberlebens gesetzt, die auch
in heutigen geschichtswissenschaftlichen Diskursen noch als zentral und relevant
gelten. Entsprechend der Bandbreite der Themenbereiche und der Emotionalität und
Intimität der persönlichen Geschichten erwies sich dieser eher offene, die Erzählung
stimulierende, wenngleich einem Leitfaden folgende Interviewstil generell als sinnvoll.
49 Vgl. Pierre Bourdieu : L’illusion biographique, in : Actes de la recherche en sciences sociales 62.1 (1986),
S. 69–72.
50 Wir folgen dabei einem damals erst ansatzweise erprobten Verfahren, siehe jedoch : Gerhard Botz : Nach-
wort zur Entstehung der erzählten Lebensgeschichte von Margareta Glas-Larsson, in : Glas-Larsson, Ich
will reden, S. 270–272. Grundsätzlich dazu Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen