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Mobile Culture Studies | >mcs_lab> 1 (2020)
Valentino Filipovic | Gespräche im Gehen 21
ich es grad eilig hab, mit anderen Dingen beschäftigt bin. Manchmal verpasse ich auch einfach
den entscheidenden Moment des Stehenbleibens, so eine Entscheidung braucht Zeit, ob man
jetzt ein paar Minuten seiner Zeit hergeben möchte dafür. Und meist ist die Person dann schon
vorbeigegangen. Es wäre dann komisch, mich umzudrehen und hinterherzurennen. Ich frag
mich, wieso ich nicht einfach laut ‚Hallo!‘ schreie, wieso ich nicht umdrehe, um ihn zu grüßen
und kurz zu plaudern. Aus irgendeinem Grund will ich manchmal lieber weitergehen.“
V.: „Wo oder wie tauschst du dich sonst mit dieser Person aus?“
A.: „Eigentlich eh nur, wenn wir uns wo begegnen und das Setting grad passt, beim Fortgehen,
im Park oder sonst in einem ruhigen Moment. Oft fällt mir auch erst nach der Begegnung auf
der Straße ein, was ich zu der Person hätte sagen können. Oft sind es ja belanglose Sachen,
vielleicht wehre ich mich deshalb so, auf der Straße mit jedem flüchtigen Bekannten zu quat-
schen, so ein Art Schutz vor sozialem Stress. Ich kann ja nicht mit jeder Person quatschen, die
ich treffe, und möchten tu ich das auch nicht.“
22. Oktober, sonniges Wetter, Mariahilferstraße/Lendplatz
I: „Hast du noch das alte Exil gekannt dort? [V.: „Ja, kenne ich, war paar Mal schon drinnen,
bevors dann zugemacht hat.“] Genau. Das war auch unser Lokal, wo wir uns am liebsten
getroffen haben, weil sie das fast immer vorgeschlagen hat. Diese Geschichte verbinde ich mit
diesem Ort, wo das Exil früher war. Und vor allem die Fensterscheibe vom Lokal und wie es
von draußen ausschaut, wenn man reinschaut. Weil, ich bin damals oft einen Umweg gegangen
von der Arbeit nach Hause. Zu Fuß über den Lendplatz gegangen in die Mariahilferstraße,
immer am Exil vorbei, immer dort kurz reingeschaut, ob sie drinnen ist. Manchmal war sie es
auch… Das Exil hat ein großes Fenster gehabt statt einer Wand nach draußen und da sind zwei
Tische gestanden, wo man rausschauen konnte und Menschen beim Vorbeigehen beobachten.
Und ich erinnere mich, dass da immer Menschen einen Blick rausgeworfen haben, wenn ich
oder andere vorbeigehen – irgendwie ist das ein Grazer Ding, dass man anderen Menschen im
Lokal beim Vorbeigehen einen Blick hinterherwirft, weil man denkt, man könnte diese Person
kennen... Das Exil hat auf jeden Fall an dem Standort zugemacht und ist an den nördlichen
Lendplatz übersiedelt, das gibts heute aber auch nicht mehr. Lange Zeit ist die Lokalfläche
leer gestanden und es war ein merkwürdiges Gefühl, dort an leeren und dunklen Fenstern
vorbeizugehen. Heute find ich’s witzig, wenn ich vorbeigehe und dran denke... Da ist heute
irgend so ein Luxus-Möbelgeschäft drinnen. […] Heut gehe ich schon noch öfters durch die
Mariahilferstraße, weil ich in der Gegend wohne und zum Lendplatz oder Hofer einkaufen
gehe, und manchmal was trinken bin in der Mariahilfer Straße. Aber ich habe nicht mehr so
die gleiche Verbindung dazu, heute ist der Ort dort eher ein bisschen ‚geschichtslos‘ für mich
und austauschbarer geworden.“
Erfahrung, Erinnerung, Erlebnis
„Straßen sind Orte der Artikulation eines gesellschaftlichen Gedächtnisses, von dem nicht
nur die sichtbaren Zeugen vergangenen Geschehens […] zeugen, sondern auch die unsicht-
baren Bilder der Memorie, der Erinnerung des selbst Erlebten.“ (Rolshoven 2018, S. 14)
Diese Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnisse stammen aus der Vergangenheit und zeugen
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Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal