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(2020)Christine
Fürst | Die Wiener „Mahü“ rund um die Uhr
erfolgen? Beziehung erschafft Sichtbarkeit, lässt Grenzen wahrnehmen und erkennen. Es war die
Begegnung mit einem, an einer Einfassung eines Pflanzentroges lehnenden gepiercten und täto-
wierten, ungefähr vierzigjährigen Mann, der mit starrem Blick die vorbeigehenden Menschen
beobachtete, die ihm immer wieder in einem leichten Bogen auswichen, der Unsichtbares zum
Ausdruck brachte. An seiner Seite befanden sich
ein Hund und ein großes zusammengeschnürtes
Paket an Habseligkeiten, das ihn als obdachlos
auszuweisen schien. Es war eine Begegnung mit
einem Obdachlosen in der Mariahilfer Straße, die
vorerst bei der Forscherin eine gehörige Irritation
auslöste. Der Versuch, mit dem an einem Betonso-
ckel lehnenden Mann ins Gespräch zu kommen,
scheiterte kläglich und endete mit seinem Wut-
ausbruch über die Gesellschaft und einer ordent-
lichen Schimpftirade. Erst in der Reflexion und
durch Impulse aus der Projektgruppe wurde sich
die Forscherin des Übertretens einer unsichtba-
ren Grenze gewahr. Keine Türklingel oder Tür-
schwelle ließen den öffentlichen Raum zum pri-
vat gewordenen erkennen. Das Übertreten dieser
unsichtbaren Grenze und damit das Eindringen
in den von ihm in Besitz genommenen öffentli-
chen Raum, ließ eine Interaktion von vornherein
scheitern. Die sich nähernde Unwissende, sich
keiner Grenze und keiner Schuld bewusst, traf
auf einen Okkupanten, der sein „Reich“ gegen
den Eindringling verbal verteidigte. Die Forsche-
rin assoziierte im Erkennungsprozess, dass sie ein
unerlaubtes Betreten ihrer privaten Räumlichkei-
ten ebenso als Grenzverletzung gedeutet und dieses auch verbal verteidigt hätte. Walter Siebel
sieht „am unteren Pol der sozialen Hierarchie eine wachsende Zahl der Ausgegrenzten, die für
sich keine Chancen in dieser Gesellschaft erkennen können und die deshalb glauben, dieser
Gesellschaft auch nichts schuldig zu sein. Sie reagieren mit Apathie und gelegentlichen Wut-
ausbrüchen.“44
Der urbane Ort der Begegnung
„Die Identität eines Raumes resultiert aus der Struktur der sozialen und kulturellen Merk-
male“45, so Martin Wirbel. Da wir alle den urbanen Raum nutzen und uns kürzer oder län-
ger darin aufhalten, bzw. viele Menschen auch auf ihn angewiesen sind, erhält der öffentliche
44 Vgl. W. Siebel: Die Bedeutung der Innenstadt aus soziologischer Sicht, S. 50.
45 Martin Wirbel: Der Raum als rhizomorphes Geflecht. Das TheAtro & einige Verkettungen. In: Manfred
Omahna, Martin Wirbel, Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.), Der andere Blick auf die Stadt (=Kuckuck. Notizen
zu Alltagskultur und Volkskunde, Sonderband 3/1999). Graz 1999, S. 74-89, hier S. 75.
Abb. 4 & 5: Unsichtbare Grenzen
Quelle: Christine Fürst, 2018.
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Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal