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Dies Problem vom Werthe des Mitleids und der Mitleids-Moral (– ich bin ein
Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint
zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal
hier hängen bleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehn, wie es mir ergangen
ist: – eine ungeheure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglichkeit fasst
ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor,
der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue
Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben
eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst
erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der
Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie
sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als
Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral
als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine
solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist.
Man nahm den Werth dieser »Werthe« als gegeben, als thatsächlich, als
jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten
daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwerthig als »den
Bösen« anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit,
Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des
Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre?
Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine
Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die
Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher,
ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger?… So dass gerade die
Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit
und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die
Moral die Gefahr der Gefahren wäre?…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften