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– Aber ihr versteht das nicht? Ihr habt keine Augen für Etwas, das zwei
Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kommen?… Daran ist Nichts
zum Verwundern: alle langen Dinge sind schwer zu sehn, zu
übersehn. Das aber ist das Ereigniss: aus dem Stamme jenes Baums der
Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten,
nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, dessen Gleichen
nie auf Erden dagewesen ist – wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus,
eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: – und aus
welchem andern Stamme hätte sie auch wachsen können?… Dass man aber ja
nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach
Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das
Umgekehrte ist die Wahrheit! Diese Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine
Krone, als die triumphirende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit
und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drange gleichsam im
Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf
Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer
gründlicher und begehrlicher in Alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter
senkten. Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe,
dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg
bringende »Erlöser« – war er nicht gerade die Verführung in ihrer
unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der
Umweg zu eben jenen jüdischen Werthen und Neuerungen des Ideals? Hat
Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses »Erlösers«, dieses scheinbaren
Widersachers und Auflösers Israel’s, das letzte Ziel seiner sublimen
Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer
wahrhaft grossen Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen,
langsam-greifenden und vorausrechnenden Rache, dass Israel selber das
eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches
verleugnen und an’s Kreuz schlagen musste, damit »alle Welt«, nämlich alle
Gegner Israel’s unbedenklich gerade an diesem Köder anbeissen konnten?
Und wüsste man sich andrerseits, aus allem Raffinement des Geistes heraus,
überhaupt noch einen gefährlicheren Köder auszudenken? Etwas, das an
verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol
des »heiligen Kreuzes« gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines
»Gottes am Kreuze«, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten
äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gotteszum Heile des
Menschen?… Gewiss ist wenigstens, dass sub hoc signo Israel mit seiner
Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über
alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphirt hat. ––
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften