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– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht
nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht
fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft!
Schlechte Luft! Dass etwas Missrathenes in meine Nähe kommt; dass ich die
Eingeweide einer missrathenen Seele riechen muss!… Was hält man sonst
nicht aus von Noth, Entbehrung, bösem Wetter, Siechthum, Mühsal,
Vereinsamung? Im Grunde wird man mit allem Ăśbrigen fertig, geboren wie
man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer
wieder einmal an’s Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des
Siegs, – und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar,
gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen,
den alle Noth immer nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt
mir – gesetzt, dass es himmlische Gönnerinnen giebt, jenseits von Gut und
Böse – einen Blick, gönnt mir Einen Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-
Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch
Etwas zu fĂĽrchten giebt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt,
auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um
desswillen man den Glauben an den Menschenfesthalten darf!… Denn so
steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen
birgt unsre grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde… Wir sehen
heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch
abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere,
Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch,
es ist kein Zweifel, wird immer »besser« … Hier eben liegt das Verhängniss
Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu
ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm
eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute
Nihilismus, wenn er nicht das ist?… Wir sinddes Menschen müde…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften