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Kommen wir zum Schluss. Die beiden entgegengesetzten Werthe »gut und
schlecht«, »gut und böse« haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen
Kampf auf Erden gekämpft; und so gewiss auch der zweite Werth seit langem
im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der
Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, dass er
inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer
geistiger geworden sei: so dass es heute vielleicht kein entscheidenderes
Abzeichen der »höheren Natur«, der geistigeren Natur giebt, als zwiespältig
in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu
sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle
Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst »Rom gegen Judäa,
Judäa gegen Rom«: – es gab bisher kein grösseres Ereigniss
als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesentodfeindlichen Widerspruch.
Rom empfand im Juden Etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein
antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude »des Hasses gegen das ganze
Menschengeschlecht überführt«: mit Recht, sofern man ein Recht hat, das
Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft
der aristokratischen Werthe, der römischen Werthe anzuknüpfen. Was
dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man erräth es aus tausend
Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse
zu Gemüthe zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche,
welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die
tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses
Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb,
desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab –:
darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische Falschmünzerei auch zu
diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken
und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie
dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen,
jede Inschrift entzückt, gesetzt, dass man erräth, was da schreibt. Die Juden
umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence,
dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte:
man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder
die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften
Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es
ist ja gar kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom
selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe beugt – und nicht nur in
Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm
geworden ist oder zahm werden will, – vor drei Juden, wie man weiss,
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften