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Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu
allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen
zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des
Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man
geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir
unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden
und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und
Feindseligkeiten, denen der Mensch ausserhalb, der »Friedlose«, ausgesetzt
ist – ein Deutscher versteht, was »Elend«, êlend ursprünglich besagen will –,
wie man sich gerade in Hinsicht auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten
der Gemeinde verpfändet und verpflichtet hat. Was wird im andren
Fall geschehn? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich
bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier
am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet
hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein »Brecher«, ein
Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in Bezug auf alle Güter und
Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt
hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und
Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem
Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser
Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es
mit diesen Gütern auf sich hat. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des
Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder
zurück, vor dem er bisher behütet war: es stösst ihn von sich, – und nun darf
sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die »Strafe« ist auf dieser Stufe
der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen
den gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur
jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist;
also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis! in aller Schonungslosigkeit
und Grausamkeit: – woraus es sich erklärt, dass der Krieg selbst (eingerechnet
der kriegerische Opferkult) alle die Formenhergegeben hat, unter denen die
Strafe in der Geschichte auftritt.
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften