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Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die
auseinander fallen oder fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in Eins.
Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv,
wie sie es immer getrieben haben –: sie machen irgend einen »Zweck« in der
Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos
diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig.
Der »Zweck im Rechte« ist aber zu allerletzt für die Entstehungsgeschichte
des Rechts zu verwenden: vielmehr giebt es für alle Art Historie gar keinen
wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch
wirklich errungen sein sollte, – dass nämlich die Ursache der Entstehung
eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche
Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo
auseinander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-
Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue
Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen
umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen
Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen
und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der
bisherige »Sinn« und »Zweck« nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht
werden muss. Wenn man die Nützlichkeit von irgend welchem
physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer
gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten
oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch
nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm
dies älteren Ohren klingen mag, – denn von Alters her hatte man in dem
nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer
Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als
gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich
auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle
Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über
etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn
einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines »Dings«, eines
Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von
immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen
selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter
Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen.
»Entwicklung« eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss
nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer
und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften