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Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der
Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte,
dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man
»zähmen« will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte,
der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und
gefährliche Wildniss schaffen musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und
verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«. Mit
ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von
welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen
Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes
gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung
gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und
Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der
Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei
nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes,
Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der
Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That, es brauchte
göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfieng und
dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein, zu
wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem
lächerlichen Gestirn abspielen dürfte! Der Mensch zählt seitdem mit unter den
unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das »grosse Kind« des
Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse,
eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich
Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur
ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften