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Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten
Gewissens gehört erstens, dass jene Veränderung keine allmähliche, keine
freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue
Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein
unabweisbares Verhängniss, gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein
Ressentiment gab. Zweitens aber, dass die Einfügung einer bisher
ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit
einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende
geführt wurde, – dass der älteste »Staat« demgemäss als eine furchtbare
Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und
fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht
nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das
Wort »Staat«: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgend ein
Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche,
kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre
furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene,
aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt
ja der »Staat« auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche
ihn mit einem »Vertrage« beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur
»Herr« ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit
Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen
wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da
wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu »anders«,
um selbst auch nur gehasst zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-
schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewusstesten
Künstler, die es giebt: – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein
Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und
bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst
ein »Sinn« in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was
Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen
Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie
Erz blickt und sich im »Werke«, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle
Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss. Sie sind es nicht, bei denen das
»schlechte Gewissen« gewachsen ist, das versteht sich von vornherein, – aber
es würde nicht ohne sie gewachsen sein, dieses hässliche Gewächs, es würde
fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-
Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens
aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam latent gemacht worden wäre.
Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften