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Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel,
aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir
die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und
sublimsten Gipfel gekommen ist: – wir werden sehn, was damit eigentlich
erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen
Athems, – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren
Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältniss des Schuldners zu
seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal,
und zwar in einer historisch ĂĽberaus merkwĂĽrdigen und bedenklichen Weise
in ein Verhältniss hineininterpretirt worden, worin es uns modernen
Menschen vielleicht am unverständlichsten ist: nämlich in das Verhältniss
derGegenwärtigen zu ihren Vorfahren. Innerhalb der ursprünglichen
Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die
lebende Generation gegen die frĂĽhere und in Sonderheit gegen die frĂĽheste,
geschlecht-begrĂĽndende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs
eine blosse GefĂĽhls-Verbindlichkeit: man dĂĽrfte diese letztere sogar nicht
ohne Grund für die längste Dauer des menschlichen Geschlechts überhaupt in
Abrede stellen). Hier herrscht die Ăśberzeugung, dass das Geschlecht durchaus
nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, – und dass man
ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurĂĽckzuzahlen hat: man erkennt
somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen
in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte
neue Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst
etwa? Aber es giebt kein »Umsonst« für jene rohen und »seelenarmen«
Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung,
im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor Allem
Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren
Satzungen und Befehle –: giebt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt
übrig und wächst: von Zeit zu Zeit erzwingt er eine grosse Ablösung in
Bausch und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den
»Gläubiger« (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut,
Menschenblut in jedem Falle). Die Furcht vor dem Ahnherrn und seiner
Macht, das Bewusstsein von Schulden gegen ihn nimmt nach dieser Art von
Logik nothwendig genau in dem Maasse zu, in dem die Macht des
Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher,
unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt! Jeder
Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle
Anzeichen von Entartung, von heraufkommender
Auflösung vermindern vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines
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Buch Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften