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Dies vorläufig im Kurzen und Groben über den Zusammenhang der Begriffe
»Schuld«, »Pflicht« mit religiösen Voraussetzungen: ich habe absichtlich die
eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben in’s
Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des schlechten Gewissens mit
dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und am Schluss des vorigen
Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisirung gar nicht gäbe,
folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwendig zu Ende
gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern
»Gläubiger«, an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren
Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer
Zurückschiebung in’s schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch
gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren,
mindestens ihre Bewegung stillzustellen: jetzt soll gerade die Aussicht auf
eine endgültige Ablösung ein-für-alle-Mal sich pessimistisch zuschliessen,
jetzt soll der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen,
zurückprallen, jetzt sollen jene Begriffe »Schuld« und »Pflicht« sich
rückwärts wenden – gegen wendenn? Man kann nicht zweifeln: zunächst
gegen den »Schuldner«, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich
dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und
Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die
Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der
»ewigen Strafe«) concipirt ist –; endlich aber sogar gegen den »Gläubiger«,
denke man dabei nun an die causa prima des Menschen, an den Anfang des
menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn, der nunmehr mit einem
Fluche behaftet wird (»Adam«, »Erbsünde«, »Unfreiheit des Willens«) oder
an die Natur, aus deren Schooss der Mensch entsteht und in die nunmehr das
böse Princip hineingelegt wird (»Verteufelung der Natur«) oder an das Dasein
ĂĽberhaupt, das als unwerth an sich ĂĽbrig bleibt (nihilistische Abkehr von ihm,
Verlangen in’s Nichts oder Verlangen in seinen »Gegensatz«, in ein
Anderssein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit Einem Male vor dem
paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte
Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich
des Christenthums: Gott selbst sich fĂĽr die Schuld des Menschen opfernd,
Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom
Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden
ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man’s
glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften