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Man wird bereits errathen haben, was eigentlich mit dem Allen und unter dem
Allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene
Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten
Thiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den »Staat« Eingesperrten,
der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu thun, nachdem
der natürlichere Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war, – dieser
Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung
bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und
Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum
Folterwerkzeug. Er ergreift in »Gott« die letzten Gegensätze, die er zu seinen
eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet
diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft,
Auflehnung, Aufruhr gegen den »Herrn«, den »Vater«, den Urahn und
Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch »Gott« und »Teufel«, er
wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit,
Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend,
leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als
Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als
Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art
Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht
seines Gleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich
zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass
die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten
Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und
giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von »fixen Ideen« ein für alle
Mal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurichten – das des
»heiligen Gottes« –, um Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit
handgreiflich gewiss zu sein. Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie
Mensch! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur, welche
Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus,
wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der That zu sein!… Dies Alles
ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düsteren
entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu
lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel,
die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat: – und wer
es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür! –)
wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei
des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der
wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst… Im Menschen ist
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften