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Dass ich in einem solchen Falle, der vieles Peinliche hat, meine Meinung sage
– und es ist ein typischer Fall –: man thut gewiss am besten, einen Künstler in
so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst
nimmt wie sein Werk. Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks,
der Mutterschoos, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf
dem, aus dem es wächst, – und somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man
vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die Einsicht
in die Herkunft eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des
Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!
Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein tiefes, grĂĽndliches, selbst
schreckliches Hineinleben und Hinabsteigen in mittelalterliche Seelen-
Contraste, ein feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht des
Geistes, eine Art intellektueller Perversität (wenn man mir das Wort
nachsehen will) ebensowenig erspart als einem schwangeren Weibe die
Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft: als welche man,
wie gesagt, vergessen muss, um sich des Kindes zu erfreuen. Man soll sich
vor der Verwechselung hĂĽten, in welche ein KĂĽnstler nur zu leicht selbst
geräth, aus psychologischer contiguity, mit den Engländern zu reden: wie als
ob er selber das wäre, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann.
Thatsächlich steht es so, dass,wenn er eben das wäre, er es schlechterdings
nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen
Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn
Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in
alle Ewigkeit von dem »Realen«, dem Wirklichen abgetrennt; andrerseits
versteht man es, wie er an dieser ewigen »Unrealität« und Falschheit seines
innersten Daseins mitunter bis zur Verzweiflung müde werden kann, – und
dass er dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade ihm Verbotenste,
in’s Wirkliche überzugreifen, wirklich zu sein. Mit welchem Erfolge? Man
wird es errathen… Es ist das die typische Velleität des Künstlers: dieselbe
Velleität, welcher auch der altgewordne Wagner verfiel und die er so theuer,
so verhängnissvoll hat büssen müssen (– er verlor durch sie den werthvollen
Theil seiner Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität,
wer möchte nicht überhaupt wünschen, um Wagner’s selber willen, dass
er anders von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit
einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer, – weniger
irrefĂĽhrend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger
Schopenhauerisch, weniger nihilistisch?…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften