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Zur Genealogie der Moral
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6 Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht, – obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln; was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom »Zuschauer« aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den »Zuschauer« selber in den Begriff »schön« hinein bekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser »Zuschauer« den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! – nämlich als eine grosse persönliche Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall: und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrthum sitzt. »Schön ist, hat Kant gesagt, was ohne Interesse gefällt.« Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher »Zuschauer« und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das abgelehnt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le désintéressement. Wer hat Recht, Kant oder Stendhal? – Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen »ohne Interesse« anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen: – die Erfahrungen der Künstler sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt »interessanter«, und Pygmalion war jedenfalls nicht nothwendig ein »unästhetischer Mensch«. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässiger Naivetät zu lehren weiss! – Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug: das Wort »ohne Interesse« interpretirte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben
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Zur Genealogie der Moral
Titel
Zur Genealogie der Moral
Autor
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Datum
1887
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.0 cm
Seiten
148
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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