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Wege zum Optimum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet?
Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren
es nicht; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheirathet.
Ein verheiratheter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und
jene Ausnahme Sokrates, der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice
verheirathet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstriren. Jeder Philosoph
würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohnes
gemeldet wurde: »Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet«
(Râhula bedeutet hier »ein kleiner Dämon«); jedem »freien Geiste« müsste
eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, dass er vorher eine
gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam – »eng
bedrängt, dachte er bei sich, ist das Leben im Hause, eine Stätte der
Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses«: »dieweil er also dachte,
verliess er das Haus«. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken
zur Unabhängigkeit angezeigt, dass ein Philosoph nicht ohne ein innerliches
Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu
hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in
irgend eine Wüste giengen: gesetzt selbst, dass es bloss starke Esel waren und
ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes. Was bedeutet demnach
das asketische Ideal bei einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird es
längst errathen haben: der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem
Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er
verneint nicht damit »das Dasein«, er bejaht darin vielmehr seinDasein
und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der
frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat
philosophus, fiam!…
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften