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In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt, in welcher Schätzung, unter
welchem Druck von Schätzung das älteste Geschlecht contemplativer
Menschen zu leben hatte, – genau so weit verachtet als es nicht gefürchtet
wurde! Die Contemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen
Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe
zuerst auf der Erde erschienen: daran ist kein Zweifel. Das Inaktive,
Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contemplativer Menschen legte
lange ein tiefes Misstrauen um sie herum: dagegen gab es kein anderes Mittel
als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf haben sich zum
Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen wussten
ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu
geben, auf den hin man siefürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch
fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und
Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich alle Werthurtheile gegen sich
gekehrt, sie hatten gegen »den Philosophen in sich« jede Art Verdacht und
Widerstand niederzukämpfen. Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer
Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die
erfinderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser
machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-Neuerer, welche es nöthig hatten, in
sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst
an ihre Neuerung glauben zu können. Ich erinnere an die berühmte
Geschichte des Königs Viçvamitra, der aus tausendjährigen
Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann,
dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu bauen: das unheimliche Symbol
der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden, – Jeder, der
irgendwann einmal einen »neuen Himmel« gebaut hat, fand die Macht dazu
erst in dereignen Hölle… Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze
Formeln zusammen: der philosophische Geist hat sich zunächst immer in
die früher festgestellten Typen des contemplativen Menschen verkleiden und
verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser
Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur möglich zu sein: das asketische
Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-
Voraussetzung gedient, – er musste esdarstellen, um Philosoph sein zu
können, er musste an dasselbe glauben, um es darstellen zu können. Die
eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige,
entsinnlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste
Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde an
sich Geltung gewonnen hat, – sie ist vor Allem eine Folge des Nothstandes
von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und bestand:
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften