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Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich,
aus Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.
Erwägen wir doch, wie regelmässig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten
der asketische Priester in die Erscheinung tritt; er gehört keiner einzelnen
Rasse an; er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen heraus. Nicht dass er
etwa seine Werthungsweise durch Vererbung züchtete und weiterpflanzte: das
Gegentheil ist der Fall, – ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr, in’s Grosse
gerechnet, die Fortpflanzung. Es muss eine Necessität ersten Rangs sein,
welche diese lebensfeindliche Species immer wieder wachsen und gedeihen
macht, – es muss wohl ein Interesse des Lebens selbst sein, dass ein solcher
Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Denn ein asketisches Leben ist
ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das
eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte,
nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen
tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die
Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich
der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in
Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am
Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der
willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung
ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies ist Alles im höchsten
Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst
zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden geniesst und in dem
Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne
Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt. »Der Triumph
gerade in der letzten Agonie«: unter diesem superlativischen Zeichen kämpfte
von jeher das asketische Ideal; in diesem Räthsel von Verführung, in diesem
Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein hellstes Licht, sein Heil,
seinen endlichen Sieg. Crux, nux, lux – das gehört bei ihm in Eins. –
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften