Seite - 112 - in Zur Genealogie der Moral
Bild der Seite - 112 -
Text der Seite - 112 -
14
Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese
Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle
der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren
halten, um so strenger die Wohlgerathenen vor der schlechtesten Luft, der
Kranken-Luft behüten. Thut man das?… Die Kranken sind die grösste Gefahr
für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken,
sondern von den Schwächsten. Weiss man das?… In’s Grosse gerechnet, ist
es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man
wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter
Umständen furchtbar zu sein, – sie hält den wohlgerathenen Typus
Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnissvoll wirkt wie kein
andres Verhängniss, das wäre nicht die grosse Furcht, sondern der
grosse Ekel vor dem Menschen; insgleichen das grosse Mitleid mit dem
Menschen. Gesetzt, dass diese beiden eines Tages sich begatteten, so würde
unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der
»letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in
der That: hierzu ist Viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen
hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er
heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, – ich rede,
wie billig, von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«,
das es nachgerade auf Erden giebt. Die Krankhaften sind des Menschen
grosse Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubthiere«. Die von vornherein
Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen – sie sind es,
die Schwächsten sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen
unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am
gefährlichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entgienge man ihm, jenem
verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem
zurückgewendeten Blick des Missgebornen von Anbeginn, der es verräth, wie
ein solcher Mensch zu sich selber spricht, – jenem Blick, der ein Seufzer ist.
»Möchte ich irgend Jemand Anderes sein! so seufzt dieser Blick: aber da ist
keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und
doch – habe ich mich satt!«… Auf solchem Boden der Selbstverachtung,
einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs,
und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die
Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten
und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das Netz der
bösartigsten Verschwörung, – der Verschwörung der Leidenden gegen die
Wohlgerathenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des
Siegreichen gehasst. Und welche Verlogenheit, um diesen Hass nicht als Hass
zurück zum
Buch Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften