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Zur Genealogie der Moral
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21 In Hinsicht auf diese ganze Art der priesterlichen Medikation, die »schuldige« Art, ist jedes Wort Kritik zu viel. Dass eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgend einem Kranken wirklich genützt habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung der Art aufrecht zu halten? Zum Mindesten sollte man sich über das Wort »nützen« verstehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen verbessert, so widerspreche ich nicht: nur dass ich hinzufüge, was bei mir »verbessert« heisst – ebenso viel wie »gezähmt«, »geschwächt«, »entmuthigt«, »raffinirt«, »verzärtlicht«, »entmannt« (also beinahe so viel als geschädigt… ) Wenn es sich aber in der Hauptsache um Kranke, Verstimmte, Deprimirte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, dass es ihn »besser« machte, unter allen Umständen kränker; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodische Anwendung von Buss-Quälereien, Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte: überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedes Mal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der »Erfolg«? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war; und das im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des Buss- und Erlösungs- training ungeheure epileptische Epidemien, die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die der St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters; wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil umschlägt; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605) –; wir finden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei »evviva la morte« über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien: wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen und Umsprüngen auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem grossen Erfolge bringt (die religiöse Neurose erscheint als eine Form des »bösen Wesens«: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quaeritur.) In’s Grosse gerechnet, so hat sich das asketische Ideal und sein sublim-moralischer Cultus, diese geistreichste, unbedenklichste und
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Zur Genealogie der Moral
Titel
Zur Genealogie der Moral
Autor
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Datum
1887
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.0 cm
Seiten
148
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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