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Zur Genealogie der Moral
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26 – Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will Nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt«… Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Gradenihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, dashinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht zurückzuschauen?… ) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen »Wozu?«, »Umsonst!«, »Nada!« – hier gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches »Mitleid«. Was aber jene andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch »modernere« Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort »Artist« als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat: oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies »beschauliche« Volk mag sich der Teufel holen! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern! – ja, es soll mir nicht darauf ankommen, gesetzt, dass ich wählen muss, selbst einem ganz eigentlich Unhistorischen, Widerhistorischen Gehör zu schenken (wie jenem Dühring, an dessen Tönen sich im heutigen Deutschland eine bisher noch schüchterne, noch uneingeständliche Species »schöner Seelen« berauscht, die Species anarchistica innerhalb des gebildeten Proletariats). Hundert Mal schlimmer sind die »Beschaulichen« –: ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver« Lehnstuhl, solch ein duftender Genüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verräth, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht,wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Scheere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer Nichts an ihr zu verlieren hat, – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer« erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das σχισμω οδοντων gab, wozu gab mir die Natur den Fuss?… Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen: zum
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Zur Genealogie der Moral
Titel
Zur Genealogie der Moral
Autor
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Datum
1887
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.0 cm
Seiten
148
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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