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/. Staat und Gesellschaft. 17
oder feindlich berührten und in weiterer Folge alle anderen gesellschaftlichen
Kräfte sich darauf einstellen, ähnlich wie die Wellenkreise sich verbreitem, die ein
ins Wasser versenkter Stein erregt. Darum kann das gesellschaftliche Leben nur
unter dem Gesichtspunkte der Entwicklung erfaßt werden.
Die gesellschaftliche Entwicklung ist nichts Einheitliches^).
In ihrer Gesamtheit wird sie nicht von einem einzigen, seiner selbst bewußten
irdischen Willen nach feststehenden Zielen hin bewegt. Sie umfaßt vielmehr, ebenso
wie die Gesellschaft selbst, alle Bestrebungen und Rückwirkungen, die sich aus der
psychologischen Wechselwirkung der Menschen bei der Verfolgung ihrer Interessen
ergeben. Und doch ist die gesellschaftliche Entwicldung— im Gegensatze zur Ent-
wicklung der äußeren Natur— zielstrebig. Denn die Menschen richten, soweit ihre
Einsicht in die Ursachen des Geschehens reicht, ihr Verhalten so ein, daß der ge-
wünschte Erfolg eintritt. Die große Mittellinie der gesellschaftlichen Entwicklung
ergibt sich aus dem Gegenspiel aller gesellschaftlichen Kräfte; aber jede einzelne
derselben wird von bestimmten Absichten bewegt und von Werturteilen geleitet.
Die Glückssehnsucht spornt die Menschen zu nie rastendem Streben an und jeder
Fortschritt der Kultur erleichtert die Erreichung des Zieles. Darum ist die gesell-
schaftKche Entwicklung geradliniger und aktiver wie die natürliche. Trotz aller
Rückschläge führt sie im großen ganzen zu höheren Daseinsformen. Aus der ur-
sächlichen Verkettung aller Entwicklungsstufen folgt die geschichtliche Bedingtheit
der gesellschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen, die Unmöglichkeit plötz-
licher Sprünge und radikaler Umwälzungen. Auch wo solche angenommen werden,
sind sie in Wirklichkeit durch treibende Kräfte und tiefer liegende Umbildungen
vorbereitet worden, die aber der Aufmerksamkeit der leitenden Männer oder dem
Urteile der Wissenschaft entgangen sind. Diese Folge des Entwicklungsgedankens
ist für die Beurteilung politischer Bestrebungen von besonderer Wichtigkeit.
Durch die aufsteigende Entwicklung wird das Gefüge der Gesellschaft immer
komplizierter. Der gesellschaftliche Fortschritt vollzieht sich durch Differenzierung
undIntegrierung ; dieDifferenzierung besteht in derAusbildung derTeile zu größerer
Selbstigkeit, die Integrierung in ilu-er strafferen Zusammenfassung zueinem Ganzen
von gesteigerter Leistungsfähigkeit^). Nach dem Vorbilde der Naturwissenschaften
nenntman eine derartige durch die Einheit des Zweckes zusammengefaßte Mehrheit
von Bestandteilen, deren jeder auf seine Weise dem Ganzen dient, einen Orga-
nismus; die einzelnen Teile werden in ihrer Zweckbeziehung auf das Ganze als
Organe bezeichnet^). So wird auch die Gesellschaft als ein Organismus aufgefaßt;
die Gruppen, die ihr eingeordnet sind, wärendarnach ihre Organe, indem siebewußt
oder unbewußt der Gesamtheit dienen.
Aber auch die einzelnen gesellschaftlichen Gebilde werden als Organismen an-
gesehen, wenn sie eine bestimmte Ordnung zur Wahrnehmung ihrer Interessen
ausgebildet haben. Gruppen, die ihren Willen nach einer ständigen Regel durch
hiefür eingesetzte Personen bilden und vollziehen, ihren Mitgliedern Pflichten auf-
^) Vergl. Adolf Merkel, Fragmente zur Sozialwissenschaft. Straßburg1898; daraus ins-
besondere die Abhandlung: „Über den Begriff der Entwicklung . ."— -) DieseEinsichtverdanken
Avir dem englischen Philosophen Herbert Spencer. Vergl. Anm. 3 auf S. 39.— ') Die be-
kannte Fabel des Menenius Agrippa!
Bauchberg, Bürgerkunde. 2
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918