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184 XLII. AllgemeineGesichtspunkte der Wirtschajis-und Sozialpolitik.
bedingungen zu erzielen, bringen, selbst wenn sie Erfolg haben, schwere Störungen
des Erwerbslebens mit sich und legen beiden Teilen große Opfer auf.
Es ist daher begreiflich, daß mit der Ausbreitung der kapitalistischen Pro-
duktionsweisesozialistische Theorien aufkamen, welche grundsätzlich
die gesellschaftliche Ordnung des Produktionsprozesses und demnach auch die
gesellschaftliche Verteilung der Arbeitsprodukte verlangen. So sehr auch die An-
sichten darüber auseinandergehen, wie dies zu bewerkstelligen sei, so stimmen diese
Theorien doch darin überein, daß das Privateigentum an den Produktionsmitteln
die sozialen Mißstände veranlaßt habe und daher durch Kollektivbesitz ersetzt
werden solle. Unter den verschiedenen sozialistischen Theorien hat insbesondere
die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Lehre, die auf
dersogenannten materialistischen Geschichtsauffassung beruht^), dadurch politische
Bedeutung gewonnen, daß sie dem Programm der sozialdemokratischen Partei
zugrunde liegt, das den wirtschaftlichen Kollektivismus mit radikalen demo-
kratischen Forderungen vereinigt^). Die Sozialdemokratie erstrebt die politische
Macht und in letzterLinie dieHerrschaft über denStaat,um dievolkswirtschaftliche
Produktion nach sozialistischen Grundsätzen organisieren zu können. Sie ist inter-
national, indem ihre Ziele in allen Kulturländern die gleichen sind. Und sie steht
auf dem Standpunkte des Klassenkampfes, indem sie allenthalben das besitzlose
Proletariat den bürgerlichen Klassen gegenüberstellt und den gegenwärtigen Staat
als eine Organisation dieser letzteren bekämpft.
Die positive Sozialreform, welche gegenwärtig durch die Wirt-
schaftspolitik fast aller Kulturstaatenangestrebt undnicht nurvon denbürgerlichen
Parteien, sondern in der Regel auch von der Arbeiterpartei unterstützt wird, lehnt
sowohl die individualistische als auch die sozialistische Auffassung ab. Sie will
durch Maßnahmen der Gesetzgebung und der Verwaltung eine gesellschaftliche
Ordnung schaffen, die den berechtigten Anforderungen der verschiedenen Gesell-
schaftsschichten entspricht und, soweit sie einander widersprechen, diedem Gemein-
wohl, der Kulturentfaltung und dem Staatsinteresse entsprechende Mittellinie
ziehen. Dadurch, daß sie das rücksichtslose Walten der Selbstsucht und den
KlassenkampfdurchEingreifenderöffentlichenGewalteinschränkt, stehtdiepositive
Sozialreform im Gegensatze zu dem wirtschaftlichen Liberalismus, der den Staat
auf die Rolle des Zuschauers bei den sozialen Kämpfen beschränkt. Dadurch,
daß sie an den Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung und der darauf
beruhenden Staatsverfassung grundsätzlich festhält, steht sie im Gegensatze zu
dem revolutionären Sozialismus.
Die Meinung, daß der Staat in das wirtschaftliche und soziale Leben nicht
eingreifen solle, ist also abgetan. In welcher Weise er aber eingreifen solle, darüber
gehen die Ansichten der einzelnen Parteien freilich auseinander. Der reform-
freundliche Liberalismus legt das Hauptgewicht auf die Förderung der privaten
Initiativeund die freien Organisationen. Die konservative oder autoritäre Richtung
*) Vergl. über die Marx'sche Lehre K. Kautsky: ,,Karl Marx' ökonomische Lehren",
13. Aufl., Stuttgart 1910 (Darstellung aus der Feder eines unbedingten Anhängers); dazu R.
Stammler:
, .Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung", 2. Aufl.,
Leipzig 1906.— *) Vergl. A. S c h ä f f 1 e: ,,Die Quintessenz dos Sozialismus", und ,,Die Aussichts-
losigkeit der Sozialdemokratie". Auch W. Sombart: ,,Sozialismus und soziale Bewegung",
6. Aufl., 1908.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918