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108 Spinnerinn am Rreuz (vor wiener-Neustadt).
weiter ausgeführte Behauptung, daß der Nahme von der Bauarr her-
rühre, welchen die Wiener Säule wegen ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit
mit der Neustädter in der Folge von dieser annahm. Auf keinen Fall aber
sind beyde Säulen gleichze'tig u"d von einem und demselben Baumeister
erbaut, welches aus aufmerksamer Vergleichung zur Genüge hervorgeht,
da die Wiener zwar den Vorzug der Starke und Solidität hat, aber
an Zierlichkeit der Form und künstlerischen Behandlung , welche ein
früheres kunstsinnigeres Zeitalter verrath, der Mustädter bey weitem
nachstebt.
Spinnerinn am Rreuz/ vor der Wiener Vorstadt von Wie-
ner-Neustadt; eine merkwürdige, im herrlichsten altdeutschen Style
erbaute, grosie Ge-dächtnißsaule, die mir der Wiener Säule gleiches Nah-
mens einige Ähnlichkeit hat, deren Bauart aber durch schlanke Zierlich-
keit und vortreffliche Behandlung deb Steines gewiß den Vorzug vor
1>ner behauptet. Lange glaubte man den Erbauer dieses herrlichen
Denkmals, fo wie die Zeit ihres Baues nicht ausmitteln zu können,
bis es dem wackern Historiker von W i en er-Neustadt, Carl Ferd.
Boh eim gelang, beyde durch genaue Untersuchung und Vergleichung
unwiderlegbar auszumitteln. Nach seiner gelehrten Abhandlung in den
schatzbaren Beyträgen zur Landeskunde unter der Enns fallt die Zeit ih-
rer Erbauung in das Ende des 14. Jahrhunderts, welcher Angabe
auch der ganze Charakter der Verzierungen dieser Säule mit Laubwerk
vollständig entspricht. Sie hat Leopold den Biederen zum Grün-
der und den zu damahliger Zeit sehr geschickten Architekten, Meister
Michael, der in mehreren Urkunden als Baumeister der Herzoge von
Osterreich vorkommt, und dessen Nahme sich auf mehreren alten Bau-
werken sinder, zum Erbauer. Gleichwie die Structur und die architek-
tonischen Verzierungen der ganzen Säule, sind auch die zahlreichen Fi-
guren an derselben mit großer Kunst gearbeitet. Das Hochbild derselben
zeigt Christus, wie er Mar ia mit dem Diademe der Heiligkeit
krönt, wodurch klar wird, daß die Widmung der Säule vornehmlich
der heiligen Jungfrau galr. Den Beynahmen Spinnerinn am Kreuz
erklärt Bö heim ebenfalls mit Hintanweisung aller gesuchten Herleitun-
gen ganz natürlich durch die Grundformen des Denkmals, welche, aus
einem unsichtbaren Netz entspringend, ein Sechseck bilden, das
mit dem Gewebe einer Spinne viele Ähnlichkeit hat, indem es von dem
äußersten Umfange bis zu dem Mittelpuncte aus vielen, wie es
scheint, immer kleineren Theilen besteht, und auf einem Geheim-
nisse der alten Bäukünstler, deren noch viele unentdeckt sind, be-
ruht; da dieser Nahme erst zu Ende des 16. Jahrhunderts gang und
gäbe wurde, und die Säule früher nur immer unter dem Nabmen
das Kreuz oder das steinerne Kreuz vorkommt, so läßt sich diese Ände-
rung ganz füglich aus dem Umstände, herleiten, daß, als 1587 eine
Aufbesserung der Säule Statt fand, entweder der ursprüngliche Plan
noch vorhanden war, oder der neuere Baumeister, das dem Beschauer
verborgene Netz entdeckt habe, und der Nahme Spinnerinn-Kreuz zu-
erst unrer Wenigen, dann Mehreren verlautete, endlich im Munde des
Volks allgemein wurde, und später selbst in die Schrift überging. —
Österreichische National-Enzyklopädie
Buchstabe See-V, Band 5
- Titel
- Österreichische National-Enzyklopädie
- Untertitel
- Buchstabe See-V
- Band
- 5
- Autoren
- Franz Gräffer
- Johann Czikann
- Verlag
- H. Strauß
- Ort
- Wien
- Datum
- 1835
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 13.3 x 22.0 cm
- Seiten
- 604
- Schlagwörter
- Nachschlagewerk, Biografien
- Kategorien
- Lexika National-Enzyklopädie