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demüberkommenenhistorischenMaterial reflektiertwerdenmüssen. […] DieseVorgehens-
weise ist nichtnureinAbkömmlingderSkepsis, daßeineGefühlsregungnicht automatisch
eineÜberzeugungundeineIdentifikationnochkeineErkenntnis ist, sondernleitetsichauch
von Überlegungen zur Spezifik der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des
Massenmordes anden europäischen Judenher. […] Als eineGeschichte lassen sichdieNS-
VerbrechennurauseinerPerspektiveerzählen,was,wenndiesePerspektivedieeinerOpfer-
oder Widerstandsgruppe ist, als eine besondere Würdeform verstanden werden kann, in
geschichtswissenschaftlicher Perspektive aber als Entkontextualisierung bzw. Verkürzung
geltenmuß. (Knigge2002,385)
Ferner lasse sich die grundlose Auslöschung vonMenschen aufgrund ihrer Ab-
stammungnicht ohne eine nachträgliche Sinnkonstruktion erzählen. Knigge tritt
hingegen fürAusstellungenein, dieden ‚Zivilisationsbruch‘nicht zuschütten: Sie
„sehen imFragmentarischenderRealiengewissermaßenseinenWiderscheinund
eineVeranlassungfüreigenesSuchen,Fragen,Folgern,Stellungnehmen“. (Knigge
2002, 386)MeineAnalyse der zehnhier systematischuntersuchtenMuseen zeigt,
dass sichdas ‚narrative‘Museum impostsozialistischenKontext eindeutig durch-
gesetzthat–mitAusnahmevonBulgarienundRumänien,wie imAbschnitt über
missingmuseumsgeschildetwird.
Oben bereits angedeutet ist die Verschiebung der Perspektive: 1997 hatte
SusanA.CranedenFokusaufdieOpferunddieBerücksichtigungpersönlicher
ErinnerungennochalsDesiderat eingefordert (Crane1997,63),heute istdies in
Gedenkmuseen längstRealität geworden.Märtyrer-,Helden- undWiderstands-
narrative wurden weitestgehend von Opfernarrativen abgelöst. (Rousso 2011,
32; Rahe 2002, 34) Umausnahmsweise bei einemösterreichischen Beispiel zu
bleiben: In der GedenkstätteMauthausen finden sich auf den altenGedenkta-
feln imLagerbereichnochdie traditionellenHeldInnenerzählungen.Soheißtes
amEingang zumQuarantänehof: „In diesemLagerwurden über 3000 Frauen
verschiedenerNationalität interniert, welche für die Freiheit ihres Landes und
den Frieden der ganzenWelt kämpften“, und sogar beim Friedhof der unbe-
kannten Häftlinge steht: „Sie gaben ihr Leben für die Freiheit ihrer Heimat.“
Diese früher völlig unhinterfragte Sinnstiftung steht in einemstarkenKontrast
zurneuenMuseumsausstellung.
Ein Kernpunkt der Untersuchung ist die Frage, ob ‚das Opfer‘ als Indivi-
duumoder imSinnekollektiverOpferschaft GegenstandderAusstellungen ist.
Individualisierende Opfergeschichten stellen zumeist das gewöhnliche Leben
‚davor‘ aus (Köhr 2007) und ermöglichen Empathie. Besonderswichtig in die-
semZusammenhang sindAusstellungselemente, indenendieProtagonistInnen
selbst zuWort kommen.SaulFriedländerbetont etwadieBedeutungvonOpfer-
Tagebüchernfüreine„integrierteGeschichte“desHolocaust:
2.4 DasMuseumundseinetheoretischeVerortung 35
Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen
Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid
- Titel
- Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen
- Untertitel
- Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid
- Autor
- Ljiljana Radonić
- Verlag
- DE GRUYTER
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-072205-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 338
- Schlagwörter
- Gedenkmuseen, postsozialistische Transformationsprozesse, Zweiter Weltkrieg, Europäisierung der Erinnerung, Universalisierung des Holocaust, Geschichtspolitik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
- Geschichte Nach 1918