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einen hält – liegen bleiben, das Blut gelassen rinnen spüren in den Adern, das
wartende Licht hinter den zartgerafften Gardinen und die Wärme, die weiche,
an der atmenden Haut. Man darf angstlos noch einmal in berechtigter Trägheit
die Augen schließen, man kann träumen und sich spannen und dehnen, man
gehört sich selbst. Man kann sogar – jetzt erinnert sie sich, die Tante hat es ihr
gesagt – auf diesen Knopf da zu Häupten des Bettes drücken, unter dem
briefmarkenklein der Kellner abgebildet ist, und nicht mehr muß man tun, als
den Arm bis hin spannen, und – Zauberei! – in zwei Minuten öffnet sich die
Tür, ein Kellner klopft und tritt höflich ein, ein putziges Wägelchen auf
kleinen Gummirädern fährt vor (sie hat eines bei der Tante bewundert) und
bringt je nach Belieben Kaffee, Tee oder Schokolade in schönem Geschirr
und mit weißen damastenen Servietten. Von selbst ist das Frühstück da, man
muß nicht Bohnen reiben, Feuer zünden, mit frierenden, nackt pantoffelten
Beinen sich am Herde mühen, nein, fertig kommt alles hereingefahren mit
weißem Gebäck und goldenem Honig und solchen Kostbarkeiten wie
gestern, fertig rollt ein magischer Schlitten bis ans Bett, das warme und
weiche, ohne daß man sich mühen und den Finger rühren muß. Oder man
kann den andern Knopf drücken, wo das Messingschild ein Mädchen mit
weißem Häubchen zeigt, und schon huscht sie nach leisem Klopfen herein,
mit blanker Schürze und schwarzem Kleid, fragt, was das gnädige Fräulein
wünsche, ob sie die Fensterladen öffnen solle oder die Gardinen hell oder
dunkel ziehen oder ein Bad richten. Hunderttausend Wünsche kann man hier
haben in dieser zauberhaften Welt, und alle sind im Nu erfüllt. Alles kann
man hier wollen und tun und muß es doch nicht tun und wollen. Man kann
klingeln oder nicht klingeln, man kann aufstehen oder nicht aufstehen, man
kann wieder einschlafen oder auch liegen bleiben, ganz wie man will, offenen
Auges oder die Lider geschlossen, und sich balsamisch überströmen lassen
von guten und lässigen Gedanken. Oder man kann gar nichts denken und nur
dumpf wohlig fühlen: die Zeit gehört einem, man gehört nicht der Zeit. Man
ist nicht getrieben von diesem rasenden Mühlrad der Stunde und Sekunde,
sondern gleitet nur geschlossenen Auges die Zeit lang wie in einem Boot mit
eingezogenen Rudern. Und Christine liegt, träumt und genießt dies neue
Gefühl, in ihren Ohren braust wohlig erregt das Blut wie fernes
Sonntagsgeläut.
Aber nein – energischer Ruck aus den Kissen – nicht zuviel Träumen jetzt!
Nichts von dieser einzigen Zeit verschwenden, dieser in jeder Sekunde
holdere Überraschung spendenden Zeit. Träumen kann man dann zu Hause
Monate und Jahre lang nachts in dem knarrenden, mürben Holzbett mit den
harten Matratzen und am tintenfleckigen Amtstisch, während die Bauern im
Felde sind und oben die ewig unerbittliche Uhr, ticktack, ticktack, als
pedantischer Wachtposten durch das Zimmer geht: dort ist Träumen besser als
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik