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rĂŒckte. Wolfgang Hildesheimers (1916â1991) Mozart-Essay,84 den der Verfasser
weder als Anti-/Biographie noch alsMonographie verstandenwissenwollte, ist
eine selbstreflexive Lebensbeschreibung, die unter anderem auf Verfahren der
Psychoanalyse zurĂŒckgreift.85 Wie Hildesheimer stellten auch Ingeborg Bach-
mann (1926â1973), Max Frisch (1911â1991), Uwe Johnson (1934â1984), Christa
Wolf (1929â2011) undvor allemDieterKĂŒhn (1935â2015) denSchreibprozess ins
Werk-Zentrum. Literaten und Biographen brachten sich selbst und ihreMetho-
dendezidiertmitein,86ohnehintereinenâalthergebrachtenObjektivitĂ€tsgestusâ
zurĂŒckzufallen.87 Auch in post-postmodernen Zeiten ist demnach â[d]as bio-
graphischeErzÀhlen [...]nicht schlichtverabschiedetworden, sonderndurchlief
mehrmalseinenFunktionswandel.â88
DieserDualitÀt vonTodundWiedergeburt desAutors undderdargestellten
ObjektescheintdieErkenntnis zuentspringen,dassnichtnachdereinenbiogra-
phischenoder strukturgeschichtlichenWahrheit zu suchen ist, sondern Lebens-
beschreibungen und soziohistorische Prozesse miteinander verglichen und in
einensichgegenseitig erhellendenKontextgestelltwerdenkönnen.Biographien
werdenals âperlokutionĂ€reAkteâ imBewusstsein gehalten (JohnAustin), sie be-
einflussen das Nachleben der geschilderten Person und wirken an Kanonisie-
rungsprozessenmit.89 Forscher und ihre biographischenUntersuchungsobjekte
tragendiskursivzurKonstruktioneinesLebensbildesbeiundantizipierenErgeb-
nisse.90DochdieBegriffe EvidenzundErzĂ€hlung sind fĂŒrdieBiographietheorie
deshalb nicht kategorisch auszuschlieĂen, sondernmit konstruktivistischen Er-
kenntnisseninBeziehungzusetzen.
âWaskannmanheutevoneinemMenschenwissen?â, fragt Jean-PaulSartre
(1905â1980) imVorwort zuDer Idiot der Familie.91 Das bringt die ontologische
Kernfrage vieler geisteswissenschaftlicher Disziplinen auf den Punkt. Je höher
84 Vgl.WolfgangHildesheimer:Mozart.FrankfurtamMain1977.
85 Vgl. Hildesheimer: Die SubjektivitÀt des Biographen [1981]. In: Theorie der Biographie,
S. 285â295.
86 Beispielsweise ist hier die BiographieDer Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey des
amerikanischen Journalisten und Biographen Tom Reiss zu nennen (Berlin 2008). Reiss be-
schreibt darin seinedetektivischeSpurensucheunddieOffenlegungdes Schriftstellerpseudo-
nymsEssadBeyalsLevNussimbaum.
87 Klein:Einleitung:BiographikzwischenTheorieundPraxis,S. 12.
88 Peter BraunundBernd Stiegler: Die Lebensgeschichte als kulturellesMuster. Zur EinfĂŒh-
rung. In:LiteraturalsLebensgeschichte.BiographischesErzÀhlenvonderModernebis zurGe-
genwart.Hg.vonPeterBraunundBerndStiegler.Bielefeld2012,S.9â22,hierS. 11.
89 Vgl.Fetz:DievielenLebenderBiographie,S.33.
90 Vgl.Klein:BiographikzwischenTheorieundPraxis,S. 13.
91 Jean-PaulSartre:Der IdiotderFamilie.ReinbekbeiHamburg1986,S.7.
1 Biographie:GattungundTheorieamBeispielRichardSchaukals 21
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik