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Der Krieg also, wie Kraus ihn einzig ansprechen konnte, eine verbrecherische greuliche
Töterei, alsVeröffentlichungundÖffentlichkeit, vorPublikumund fürdasPublikummit
Verlogenheit inSzenegesetzt,BeuteundAusbeuteeineralsPatriotenprotokolliertenGe-
sellschaftvonLeichenräubern.96
SchaukalverstehtdieTragödiealsKritikandiskursivenPraktikenundderhetze-
rischen Propagandarolle der Presse. Doch zieht er daraus den Schluss, dass es
schwieriger gewesenwäre, aus dem Stoff (der medialen Berichterstattung über
den Krieg) keine Satire zumachen und stattdessen „die unzähligenWunder an
SchönheitundWürde,EhreundTreue,GlaubeundMut,EntsagungundOpferzu
sammeln, die vier Jahredes göttlichenZorns [...] unter einer in allenTintender
Fäulnis erschimmerndenOberflächeverbargen.“97DieArgumentationmündet in
der Beschreibung des Titelbilds vonDie letzten Tage derMenschheit, das Kaiser
Franz Joseph (1830–1916) beimBesuch einerAusstellung zeigt undSchaukal er-
schüttert.Noch 1933bekennt er seine tiefwurzelndemonarchistischeGesinnung:
„AbermichrührtvorallemderKaiser. ‚MeinKaiser,meinKaisergefangen!‘“98
SobaldKarlKrausalskritischerAkteur imZeichendesEngagements erschei-
nen könnte, der die politischen Belange der Monarchie durch seine satirische
Schlagkraft beeinflusste, verlässt der Autor denWeg der Lebensdarstellung, um
aneineAuslegung imSinnedes geistigenBildnisses anzuknüpfen.GeradeKraus
würde sich für eineDarstellungder vitaactiva eignen,da seine kritischenÄuße-
rungen, theoretischen Ausführungen und streitbaren Positionen einem klaren
Zweckgewidmetwaren, beispielsweiseder ‚aktivenKlageführung‘, dieKrausge-
meinsammit seiner Sprach- undOrnamentkritik zummoralischen Engagement
erhobenhatte.99SchaukalbeschreibtKrausaber imSinnedervitacontemplativa,
wodurch entscheidende lebens- und sozialgeschichtliche Teile der Biographie
von Kraus ausgespart bleiben. Schaukal wählte den kontemplativen Stil, da er
sich aufgrund seiner formalen Offenheit für den bekenntnisreichen, selbstrefle-
xivenundassoziativenEssaytoneignete.LediglichdieabschließendeZusammen-
fassung der kurzen Kraus-Biographie weicht davon ab. Ein als „Lebensskizze“
96 Schaukal:KarlKraus,S.34.
97 Schaukal:KarlKraus,S.34.
98 Schaukal:KarlKraus,S.36.
99 Vgl. Karl Kraus in: Die Fackel 46 (1900), S. 20: „Weil unser öffentlicher undmündlicher
Strafprocess diePopularklagenicht kennt, habe ich ja zumZweckeder öffentlichen, schriftli-
chen Popularklage die ‚Fackel‘ gegründet.“Vgl. auch Katharina Prager: „Ich bin ja nur des-
halb ein Lump, weil der andere sich ärgert“. Vom Schimpfen, Schmähen und Polemisieren
rundumKarlKraus.MitneunSchmähbriefenausdem„MuseumderDummheit“. In:„ERLEDI-
GUNGEN“. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Hg. vonMarcel Atze und Volker Kaukoreit.
Wien2014,S. 138–171; sowieTimms:DynamikderKreise,S. 128.
3 BiographiealsSelbstreflexion 77
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik