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Der Kontakt zum böhmisch-mährischen Adel, mit dem der junge Beamte in
Berührungkamundder sichnicht zuletzt imBriefverkehrmitMarie vonEbner-
Eschenbach ausdrückt, war von entscheidender Bedeutung für die Etablierung
seiner aristokratischen Gesinnung. Schaukals Standesaspiration schlägt sich in
den frühenWerken nieder, etwa in der Person Hectors im Drama Scenen aus
einer Gesellschaft junger Leute (1902); der jungeDekadent bekennt: „Ichbin ein
AristokratvomScheitelbiszurSohle [...].DieFreundewürdenübermichherfal-
len [beidiesemBekenntnis,CM].Unddabeibin ichbürgerlich.“21
HaltungundAttitüde bedeuteten für den angehendenDichter undMiniste-
rialbeamtenmehr als den bloß körperlichenAusdruck einer vorgezeigten Klas-
senzugehörigkeit.BourdieudefiniertdenHabitusals„Erzeugungsprinzipobjektiv
klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divi-
sionis) dieser Formen“, womit gemeint ist, dass der Habitus einheitsstiftende
Praxisformenhervorbringt,zumBeispieldasSammelnundPflegenvonantiquar-
ischenBüchern, unddass jenePraktikendenAkteurnatürlich auchklassifizier-
barmachen.DasAnlegeneinerSammlung ist fürBourdieueinkleinbürgerliches
Merkmal, an demderWunsch nach demWechsel in eine höhere Position haf-
tet.22AlsahnteSchaukal,dassesdieseprekäreKlassifikationzuentkräftengälte,
unterschied er zwischendembibliophilenBüchersammler unddemernsthaften
Leser (sich selbst), derdieäußerlichewiegeistigeÄsthetik einesBucheswertzu-
schätzenweiß:
Ich bin es [bibliophil] nicht in demSinne,wie ihn der Begriff erheischenmag. Ich liebe
nicht Bücher um der Bücher willen, mir ist das schönste Buch gleichgültig, wenn sein
Inhaltmitmirnichts zu tunhat. Ich„sammle“keineBücher. Ich interessieremichweder
für Bibliothekennoch für das Bücherwesen überhaupt. Undwas die Vereinigungen von
Bibliophilen ihren Mitgliedern an Jahresgaben zu bieten pflegen, entspricht – ebenso
wenigwieHundertdrucke undderlei „fertige“ Sachen– fast nie dem,was ichmir unter
einemerwünschtenundsonst schwerzubeschaffendenBuchevorstelle.23
Mit „Wollust“ habe ihn Kürschners Deutsche National-Litteratur erfüllt, „jene
gelbbrochiertenBändemit schwarzemundrotemTiteldruck.“24
GeschmacksurteilealsAusdrucksformeneinerklassenspezifischenHaltung
sind ganz wesentliche Praxisformen Schaukals. Die Neigung und Fähigkeit,
sich Gegenstände und Praktiken einer bestimmtenKlasse anzueignen, prägen
21 Schaukal: Scenen aus einer Gesellschaft junger Leute. In: Schaukal: Einer, der seine Frau
besuchtundandereScenen.DramatischeSkizzen.Linz1902,S. 104.
22 Bourdieu:Die feinenUnterschiede,S. 206.
23 Schaukal:Meine Bücher. In: Deutscher Bibliophilen-Kalender für das Jahr 1914. Jahrbuch
fürBücherfreundeundBüchersammler.Hg.vonHansFeigl.Wien1914,S. 58–65,hierS. 59.
24 Schaukal:MeineBücher,S.61.
88 II SchaukalsEinsatzmittel imSozialraum
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik