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Beispiel für die technisch bedingten Innovationen der Druckverfahren gilt die
Neue Freie Presse, die als erste Zeitung Europas auf Endlospapierrollen gedruckt
wurde.84 Dies führte gemeinsammit dem Anstieg der Alphabetisierungsrate zu
einer „zweitenLeserevolution“ (1880–1914).85 Technologische, sozioökonomische
undbildungspolitischeVeränderungenvergrößertenalsodasallgemeineLesepub-
likum,waseinverändertesKauf-undRezeptionsverhaltennachsichzogundNeu-
gründungenvonPrintmedieningroßerZahlzurFolgehatte.
Bis zum ErstenWeltkrieg blieb die Zeitung noch vor dem Film das wich-
tigste klassenübergreifende Massenmedium und dementsprechend auch für
denKulturbetriebvonentscheidenderBedeutung.Gleichzeitig blicktedasWie-
ner Zeitungswesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine lange und leben-
dige Tradition sowie auf bedeutende Kritikerpersönlichkeiten zurück. Neben
Daniel Spitzer (1835–1893), Friedrich Uhl (1825–1906) und Ludwig Speidel
(1830–1906) setzte sich vor allem auch Ferdinand Kürnberger (1821–1879)mit
dem kulturellen wie gesellschaftspolitischen Wert der Zeitung auseinander.
1873schriebKürnberger:
DieKultur erzeugtdieBuchpresse, aberdiedemokratisierteKulturdie Zeitungspresse. Je
mehr dasMittelmaß,man könnte richtiger sagen, dieMittelmäßigkeit, der literarischen
Kultur ihre Ufer ausdehnt, desto gewisser ergießt sich die Literatur unaufhaltsam und
stromweiseausdemBuchindieZeitung.86
Zur selben Zeit veröffentlichte Friedrich Nietzsche seineUnzeitgemäßen Betrach-
tungen.DarinkritisierterdieGleichsetzungvonmilitärischerundkulturellerÜber-
legenheit, die nach demDeutsch-Französischen Krieg 1870–1871 den deutschen
Geist zugunsten des Deutschen Reichs zu beseitigen drohe87 und im gesamten
publizistischenFeldeinenGlückstaumelausgelösthabe:
Ich empfinde diesen Taumel und dieses Glück in dem unvergleichlich zuversichtlichen
Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber und Roman-, Tragödien-, Lied- und Histo-
rienfabrikanten: denndies ist doch ersichtlich eine zusammengehörigeGesellschaft, die
sich verschworen zuhaben scheint, sichderMuße- undVerdauungsstundendesmoder-
nen Menschen, das heißt seiner „Kulturmomente“ zu bemächtigen und ihn in diesen
durchbedrucktesPapierzubetäuben.88
84 Vgl.Timms:DynamikderKreise,S.52.
85 HarroSegeberg:Literatur imtechnischenZeitalter.Darmstadt 1997,S. 228.
86 FerdinandKürnberger: Glosse zumWiener Zeitungswesen [10.Mai 1873], zit. nachGreve/
Volke: JugendinWien,S.24.
87 Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss. Der
Bekennerundder Schriftsteller. In:Nietzsche:Werke indrei Bänden.Hg. vonKarl Schlechta.
Darmstadt1982,Bd. 1,S. 137–207,hierS. 137.
88 Nietzsche:UnzeitgemäßeBetrachtungen,S. 138–139.
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Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik