Seite - 14 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Einleitende
Überlegungen14
prominente Austromarxisten wie Friedrich Adler immer wieder Präzisierun-
gen ihrer Ansichten zur Sowjetunion und ihrer Entwicklung vor. Im Zuge der
Durchsetzung stalinistischer Ideologeme und Praktiken wie zum Beispiel jenem
des ‚sozialistischen Realismus‘ oder im Umfeld der Auftritte von Tretjakow in
Österreich entzündeten sich in der Programmzeitschrift Der Kampf, in der AZ
und in der Roten Fahne ebenfalls neue Debatten, die auch Aspekte der Frauen-
und Geschlechterfrage einschlossen.11 Umso überraschender ist es, sowohl in
der Geschichtsforschung als auch in kulturwissenschaftlichen Studien kaum
über umfassende, die Komplexität und Vielzahl zeitgenössischer Quellentexte,
wechselseitiger Bezugnahmen und Rezeptionsbeziehungen aufarbeitende Dar-
stellungen zu verfügen, die über generalisierende Einschätzungen hinausrei-
chen, wenngleich hier in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt
werden konnten.12
Das Interesse für Russland speiste sich aber nicht nur aus dieser spezifischen
österreichischen politisch-ideologischen Konstellation mit strukturell verwand-
ten Optionen und doch grundlegend anderen Entwicklungen 1918–19, sondern
auch aus einem intensiven Konkurrenz- und Begegnungsverhältnis seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das primär (macht-)politischer, aber auch
kulturpolitischer Natur war. Schärfere Konturen nahm dieses Verhältnis an, seit-
dem die nationale Frage angesichts ihrer Radikalisierung in den slawischspra-
chigen Territorien der Donaumonarchie, verbunden mit den Balkankriegen von
1912, zu einer Überlebensfrage beziehungsweise einer zunehmend unlösbaren
Frage sich zugespitzt hatte und seitdem zum Beispiel das plurislawisch-plurikul-
turelle Galizien zu einem Auffang- und Durchgangsraum für russisch-jüdische
Flucht- und Emigrationsströme seit 1900 geworden war. Auch unter nichtslawi-
schen Intellektuellen und Künstlern aus dem galizisch-polnischen, ungarischen
11 Stellvertretend sei nur verwiesen auf den Beitrag von F. Adler:
Was täte ein Lenin heute
zur Rettung der russischen Revolution? In: Der Kampf. H.1(1929), S. 57–60; ferner
ders.: Der Moskauer Prozeß und die Sozialistische Internationale. In: ebd. H. 4(1931),
S. 145–155. Zur Resonanz von Tretjakows Brülle China, 1930 im Wiener Schauspiel-
haus aufgeführt, sowie auf seinen Vortrag 1931 zum Thema Das neue Dorf und der
Schriftsteller in der Sowjetunion vgl. die Berichte in der AZ vom 26.4.1930, S. 9 und
8.2.1931, S. 6–7 bzw. in der Roten Fahne vom 7.5.1930, S. 5 und vom 7.2.1931, S. 2.
Ferner vgl. Therese Schlesinger:
Mann und Frau in der Sowjetrepublik. In:
Der Kampf,
H. 12(1932) S. 518–23, ausgehend von der Besprechung des Buches von Fannina
Halle: Die Frau in Sowjetrußland. Berlin-Wien: Zsolnay 1932.
12 Vgl. Verena Moritz, Julia Köstenberger, Aleksandr Vatlin, Hannes Leidinger, Karin
Moser: Gegenwelten. Aspekte österreichisch-sowjetischer Beziehungen 1918–1938.
St. Pölten–Salzburg–Wien: Residenz 2013.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur