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Die neuen „Russophilen“ und ihr Russlanddiskurs 55
„Gefechtslage“ ˂meine˃, denke aber nicht an politische Geschichte. […] Ich meine also
die Gefechte innerhalb des „russischen Menschen“.15
Am 11. oder 12. Dezember 1924 besuchte Doderer eine Veranstaltung in der
Secession, in der der zwangsausgesiedelte russische Schriftsteller, Soziologe und
Philosoph Fёdor Stepun (1884–1965) zwei Vorträge über das gegenwärtige Russ-
land hielt:
Das Antlitz Russlands und Stil und Seele des Bolschewismus.16 Doderer
vermerkt dazu in seinem Tagebuch:
„Fjodor Stepan /sic!/ /…/ ist Vollrusse17, ein
‚Redner‘, aber doch höchst sympathisch. Die Vorträge waren in jeder Hinsicht
ein grosser Erfolg /…/ - Für meinen ‚Geschmack‘ (im Sinne von ‚Witterung‘) war
dieser St. etwas zu reaktionär.“18
Die aktuellen Ereignisse (Revolution, Bürgerkrieg) wurden von Doderer in
seinen Zeitungsaufsätzen Anfang der 1920er Jahre weitgehend ausgeklammert
beziehungsweise in den Hintergrund gedrängt. Auch der Krieg Russlands mit
Polen, der zwischen Sommer und Herbst 1920 tobte, kam nur in Andeutungen
zur Sprache, so zum Beispiel im Zuge einer Begegnung mit einer Bauernfami-
lie in der sibirischen Steppe. Dabei äußert sich der Hausherr über den Krieg
wie folgt:
[I]
ch war auch an der Front, im deutschen Krieg, zwei Jahre; der Teufel weiß, wozu –
bist du nicht gerade so ein Mensch wie ich? Wir haben aber aufeinander geschossen.
Gott im Himmel! Welche Dummheit! … Und jetzt hört es noch nicht auf, schon wieder
haben wir Krieg mit Polen. Wozu? … muss denn der Krieg sein? … Was kümmert mich
Polen!19
Im Gegensatz dazu positionierte sich Doderers erster Roman Das Geheimnis des
Reichs (1930), dessen stoffliche Grundlage Erfahrungen aus der Gefangenschaft
15 Doderer, Tagebücher, S. 286f.
16 Später entstand aus diesen Vorträgen ein Buch; vgl. Fedor Stepun: Das Antlitz Ruß-
lands und das Gesicht der Revolution. Bern–Leipzig:
Gotthelf-Verlag 1934.
17 Die Familie Stepun (eigentlich: Steppuhn) war deutscher und litauischer Herkunft.
18 Doderer, Tagebücher, S. 261. Stepun sprach dort wohl auch über das sowjetische
„ideokratisch-hierarchisch-bürokratische System, das die Hierarchie der orthodoxen
Kirche mit ihren Riten nachahme“. Solche und ähnliche Einschätzungen wollten
Doderer als „etwas zu reaktionär“ erscheinen, sah er nämlich in Russland „Erwar-
tung, Ahnung, Bewegung tief im Leibe“ (ebd., S. 292). Vermutlich war dieser Vor-
trag an einen Essay angelehnt, den Stepun im Juni-Heft der katholischen Zeitschrift
Hochland veröffentlicht hatte; vgl. den Hinweis in:
Reichspost (12.6.1924), S.
12. Beide
Vorträge waren in der Arbeiter Zeitung vom 10.12.1924 (S.
5) bzw. im Neuen Wiener
Journal vom 10.12.1924 (S. 10) angekündigt worden.
19 Zit. nach: Schmidt-Dengler, Doderers schriftliche Anfänge, S. 105.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur