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E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 95
des Fünfjahresplans weist bereits die rhetorische Machart auf, die für Fischers
stalinistische Phase kennzeichnend sein wird. Stalin wird in diesem Text auch
erstmals rückhaltlos zustimmend mit seinem „wundervollen Wort“ zitiert: „Die
Arbeit wird aus einem schweren Joch zu einer Sache der Ehre, des Ruhmes, des
Heldentums.“ Diese Formel wiederholt der Artikel gebetsmühlenartig zwischen
langen Zitaten aus den Büchern von Michail Il’in und Julius Haydu über die
Produktionsleistungen von Traktorenfabriken und Eisenhütten.
Fischers Auseinandersetzung mit der jungen Sowjetunion ist von einem deut-
lichen Wandel der Gegenstände geprägt. Befragt er zunächst Filme und Romane
nach ihrer Aussagekraft über die Wandlung des russischen Geistes und über die
Umwälzungen in der Gesellschaft, so rücken in den letzten Jahren der Ersten
Republik Reportagen und wirtschaftliche Statistiken in den Fokus seiner Auf-
merksamkeit. Natürlich ist diese Verschiebung auch objektiv bedingt durch
die Konfrontation einer „Welt der Arbeitslosigkeit“ mit der ökonomischen
Anstrengung des Fünfjahresplans als dem „wunderbarsten Ereignis der Welt-
geschichte“.44 Dieser Wandel in Fischers Interessen geht einher mit einer Ver-
absolutierung des Politischen gegenüber allen anderen Aspekten; Ästhetisches,
Geistiges, allgemein Kulturelles ist unter dem Primat des Politischen vollständig
pulverisiert.
Fischers ästhetisches Denken in der Zeit der Ersten Republik erreicht damit
gewissermaßen eine Art Schlusspunkt, den man als eine Selbstaufhebung inter-
pretieren kann. Die ausschließliche Orientierung an der Nützlichkeit im Klas-
senkampf bei der Bewertung geistiger Hervorbringungen wird von seinem
bekenntnishaften Artikel „Diktatur der Idee“ von 1932 ratifiziert. Den Aus-
gangspunkt bildet für Fischer die Notwendigkeit einer Entscheidung, wie sie
dezisionistischer auch Carl Schmitt nicht hätte formulieren können:
Heute gibt es nur Ja oder Nein, heute gilt für uns das Wort der Bibel:
„Wer nicht für uns
ist, der ist gegen uns.“ […] Ziehen wir einen Trennungsstrich zwischen uns und allen,
die heute noch meinen, ihre höchst komplizierte Individualität und nicht die höchst
einfache Forderung nach dem Sozialismus sei die Hauptsache.45
Etwa sechs Wochen später erhebt Fischer diesen dezisionistischen Zwang zur
Signatur der Gegenwart: „Heute muß man den Mut zur Einseitigkeit haben,
heute muß man Partei ergreifen. Es gibt nicht eine Spezialgegenwart für Dichter.
Democracy: the crisis of Austrian socialism 1927–1934. Diss. Univ. of Wisconsin.
1973, S.
219).
44 Ernst Fischer:
5 Jahre, die die Welt verändern. In:
Arbeiter-Zeitung (6.11.1932), S.
14.
45 Ders.: Diktatur der Idee. In: Arbeiter-Zeitung (27.3.1932), S. 17.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur