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Walter
Fähnders122
Kollektivdorf und Sowjetgut, das sich im Untertitel ebenfalls als „Tagebuch“, aller-
dings als „Reisetagebuch“ und nicht als „Tagebuch-Roman“, deklarierte. Das
1933 erschienene Moskauer Skizzenbuch von Anni Geiger-Gog, auf einer Russ-
landreise am Jahreswechsel 1932/33 fußend, wurde in Deutschland kaum mehr
wahrgenommen, die sehr viel früheren Berichte von Helene Stöcker und der
Ärztin Martha Ruben-Wolf standen im speziellen Zusammenhang der Arbeit
für die Gesellschaft der Freunde des neuen Russlands beziehungsweise des Inte-
resses an der Entwicklung der Medizin in Sowjetrussland. Hinzuzufügen wären
dieser Liste Ilse Langner, Helene von Watter und Elisabeth Thommen. Ilse Lang-
ner fuhr 1928 „als erste deutsche Journalistin“15 nach Russland, wie die Zeitung
des Scherl-Konzerns Der Tag verkündete, publizierte in der Scherl-Presse einige
(noch unerschlossene) Reportagen sowie Berichte und konnte sich damit in Ber-
lin als junge Schriftstellerin etablieren. Helene von Watters Bericht Eine deut-
sche Frau erlebt Sowjetrußland von 1932 gehörte eher zum rechten Spektrum,
während die 1933 in Zürich erschienene Blitzfahrt durch Sowjet-Rußland der
Schweizer Autorin Elisabeth Thommen liberal orientiert war.
Auch über den geschlechtsspezifischen Hinweis hinaus verspricht der zitierte
Werbetext Außergewöhnliches: eben ein Konzept, das Subjektives und Objekti-
ves zu einen suche, weil das traditionell Subjektive allein ebenso wie das tradi-
tionell Objektive nicht ausreiche. Wahrheitsgehalt und Authentizitätsanspruch
treten als ganz unstrittig auf, da aus eigenem Erleben gespeist – und dies zu
einer Zeit, die literarhistorisch gesehen vom Kampf um das Dokumentarische
geprägt ist.
Offenkundig reüssierte das Buch. Bereits Anfang 1932 erschien ein Vorab-
druck in der Wiener Arbeiter-Zeitung, 1933 wurde es in der in Zürich erschei-
nenden sozialdemokratischen Tageszeitung Volksrecht in Fortsetzungen
nachgedruckt und umgehend ins Englische, Japanische und Bulgarische über-
setzt. Die nicht wenigen Besprechungen waren überwiegend positiv.16
3 „Fünfjahresplan und Menschenherz“
Eine Frau erlebt den roten Alltag erschien Mitte 1932 mit dem Untertitel: „Ein
Tagebuch-Roman aus den Putilowwerken“. Die Auflage betrug beachtliche 6.000
15 Vgl. Ilse Langner: Ich reise nach Rußland, in: Der Tag (31.3.1928).
16 Vgl. beispielsweise die unten zitierte ausführliche Besprechung von Siegfried Kra-
cauer sowie die Rezensions-Nachweise in: Hertling, Lili Körber, S. 963; zur zeitge-
nössischen Rezeption vgl. auch: Lemke, Lili Körber, S. 95–104.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur