Seite - 137 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Bild der Seite - 137 -
Text der Seite - 137 -
Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 137
2 An der Grenze „zwischen Welt und Welt“
Es ist auffallend, dass schon im Rahmentitel der Reportagenreihe das Reise-
ziel Roths mit dem alten, politisch anscheinend neutralen Namen „Russland“
bezeichnet wird. Während der offizielle neue Name des Staates den Anspruch
auf historische Novität und – um wieder mit Derrida zu sprechen14 – einen prä-
zedenzlosen Bruch mit der eigenen historisch-kulturellen Tradition veranschau-
licht, verweist das Toponym auf die Resistenz dieser Tradition und evoziert die
gewöhnliche Stereotype des patriarchalen, (im Sinne von Karl Emil Franzos, der
das „Halb-Asiatische“ mit dem „Halbbarbarischen“ gerne gleichsetzte, „halb-
asiatischen“)15, von Modernität kaum affizierten zaristischen Russland. Somit
werden schon im Paratext die allgemeinen Parameter von Roths Russland-Vi-
sion angedeutet, die den neuesten politischen Realien, dem bolschewistischen
Diskurs über den Aufbau eines neuen Staates auf den Ruinen des alten Russ-
land und nicht zuletzt dem zukunftsorientierten Mainstream der sowjetischen
Reportagen von europäischen linken Intellektuellen die Strategie des Rekurrie-
rens auf die vorrevolutionäre Vergangenheit des Landes und sein historisches
Erbe entgegenstellt.
Symbolträchtig widmet Roth dem Russland von gestern die erste Skizze sei-
nes Reportagenzyklus, in dem er mit bitterer Ironie über das Schicksal der zaris-
tischen Emigranten berichtet, die in Europa oft in die jämmerliche Rolle der
lebendigen Splitter des untergegangen Reiches schlüpfen:
Lange bevor man noch daran denken konnte, das neue Rußland aufzusuchen, kam
das alte zu uns. Die Emigranten trugen den wilden Duft ihrer Heimat, der Verlassen-
heit, des Bluts, der Armut, des außergewöhnlichen, romanhaften Schicksals. Es paßte
14 „[S]
elbst der Name ‚die UdSSR‘ “, so Derrida, „ist der weltweit einmalige Staatsname,
der keinen Bezug auf die Gegend oder die Nation nimmt, somit auch der einmalige
Staatsname, der kein Eigenname im üblichen Sinne dieses Wortes ist […][.] Beim
Entstehen hat sich der Staat einen durchaus künstlichen, technischen, konzeptuellen,
abstrakten, konventionellen und verfassungsbegrenzten Namen, einen allgemeinen
‚kommunistischen‘, ausgesprochen politischen Namen gegeben“ (Derrida, Back from
Moscow, S. 15).
15 Eine interessante Analyse der Beziehungen zwischen Roths Kartierung von Ost-
europa und dem damaligen Europa-Diskurs, für den Franzos’ Werk „modellbildend
war“, bietet Telse Hartmann in seiner Monografie Kultur und Identität. Szenarien
der Deplatzierung im Werk Joseph Roths (Tübingen:
Francke 2006, S.
66–90). Zu den
mentalen Karten Osteuropas vgl. auch Frithjof Benjamin Schenk:
Mental Maps. Die
Konstruktion von geografischen Räumen seit der Aufklärung. In: Geschichte und
Gesellschaft, H. 3/2002, S. 493–514.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur