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Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 145
Kind ist beteiligt und verantwortlich […] alle Menschen klettern auf Gerüsten,
stehen auf Leitern, steigen auf Treppen, reparieren, bauen ab, schütten zu. Noch
steht niemand frei und souverän auf der Erde“ [RW
624]. Trotz ihrer ironischen
Färbung trifft die Roth’sche Metapher der Baustelle ein zentrales sowjetisches
Ideologem, das sich durch die ganze Geschichte des Landes zieht: von Lenins
These über „den Bau des Kommunismus in einem Einzelland“ über das letzte
Allunion-Projekt, die als „Bau des Jahrhunderts“ gepriesene Baikal-Amur-Ma-
gistrale (BAM), bis hin zu Michail Gorbačёvs Perestroika, also hin zur „Umge-
staltung“, die das nachfolgende Ende des Staates ausgelöst hat.
4 Hinter der Maske der Utopie
Das seltsame Gemisch aus kulturellem Verfall, technisch-pragmatischer Moder-
nität und kommunistischem Drill, das Roth zum Kern des nachrevolutionä-
ren Sowjetrusslands erklärt, findet er überall, das heißt im öffentlichen wie
im privaten Leben der Sowjetmenschen, wieder. Dadurch unterminiert er die
sowjetische Propaganda, die alle Fehlschläge und Entstellungen des sozialis-
tischen Aufbaus in einem rosigen Licht erscheinen ließ und sich dabei durch
präzedenzlose Verlogenheit24 hervorgetan hat. Der desillusionierende Umgang
mit der sowjetischen Realität wird zu seiner wichtigsten Darstellungsstrate-
gie. Aus diesem Blickwinkel analysiert Roth die Politik der kommunistischen
Partei in den Bereichen Religion, Bildung, Kunst, Presse, öffentliche Meinung
und Geschlechterverhältnisse. Dabei entlarvt er nicht nur die Schattenseiten
der nachrevolutionären Umwandlungen, die die bolschewistische Ideologie als
große Errungenschaften der Sowjetmacht verherrlicht hat, sondern auch jene
Methoden und Mittel, derer sich diese Ideologie bedient hat. So mokiert sich der
Schriftsteller über die brutale atheistische Propaganda, die gegen die religiöse
Lehre mit groben, antiquierten „Beweisen“ ins Feld ziehe, etwa mit Verweis dar-
auf, dass
Donner und Blitz […] Erscheinungen der Elektrizität [sind]; die Welt […] billionenmal
älter [ist], als die Bibel glaubt; die Welt […] nicht in sechs Tagen, der Mensch nicht
aus Staub erschaffen worden [ist]: Er kommt vom Affenmenschen her. Besonders über
diese Entdeckung herrscht in Rußland eine unwahrscheinlich naive Freude. Die Men-
schen sind stolz darauf, mit dem Pithekanthropus verwandt zu sein, als hätten sie eine
24 Dieses Urteil des von der bolschewistischen Revolution enttäuschten Europäers Pierre
Pascal führt François Furet neben ähnlichen Beispielen an in: Furet, Das Ende der
Illusion, S. 178.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur