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Katja
Plachov160
Zur Untermauerung seiner Anschauung verweist Fülöp-Miller auf den
Sozialpsychologen Gustave Le Bon, dessen Psychologie der Massen (frz. Psycho-
logie des foules) von 1895 europaweit enorme Popularität erlangt hatte und auch
in der Zwischenkriegszeit noch breit rezipiert wurde:
In der Weimarer Republik bilden Le Bons Ideen einen Steinbruch, aus dem Kultur-
konservative wie Oswald Spengler, Karl Jaspers, aber auch Literaten wie Hugo von
Hofmannsthal und Stefan George ihre Argumente herausschlagen. Was die durchaus
unterschiedlichen Denker und Dichter verbindet, ist ihr Fortschrittspessimismus.35
Dass der Mensch durch die Zugehörigkeit zu einer Masse auf der Stufenleiter der
Zivilisation herabsteige, da seine bewusste Persönlichkeit verschwinde und das
Unbewusste vorherrsche [vgl. GG 6], zitiert Fülöp-Miller als Le Bons zentralen
Gedanken. Als zweiten Kronzeugen für seine Ausführungen führt er Sigmund
Freud ins Treffen:
Freuds Studie über Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921)
findet Erwähnung, als Fülöp-Miller „[g]
anz im Gegensatz zu diesen Ansichten
westeuropäischer Forscher“ die Dichter des Bolschewismus, etwa Dem’jan Bed-
nyj, positioniert, die „in apokalyptischer Begeisterung das kommende Reich des
Massemenschen“ feiern [GG 6].
Fülöp-Miller präsentiert die Geschehnisse in Sowjetrussland somit durch das
transformierende Prisma der massenpsychologischen Konzeption Le Bons und
aktiviert durch diese Bezugnahme die Deutungen des nach wie vor populären
Autors. Die Vorstellung, die er daran anschließend über den Zustand der Kunst
und Kultur in Sowjetrussland entwickelt, fällt dementsprechend aus: Alles in
Russland geschehe um der Masse willen, und Kunst, Literatur, Musik und Philo-
sophie dienen vor allem dazu, sie zu lobpreisen [vgl. GG 5]. Diese Vorstellung
von Sowjetrussland wird auch visuell transportiert: Im ersten Kapitel von Geist
und Gesicht dominieren Fotografien von Demonstrationen und anderen Men-
schenansammlungen, gezeigt aus der Vogelperspektive oder in der Totale. Teil-
weise wirken die Abbildungen collagenhaft verzerrt, etwa wenn über die Fläche
eines ganzen Fotos nahezu gleichgroße Personen angeordnet sind und die natür-
liche Tiefendimension fehlt.36
35 Falko Schneider: Filmpalast, Varieté, Dichterzirkel. Massenkultur und literarische
Elite in der Weimarer Republik. In: Rolf Grimminger (Hg.): Literarische Moderne.
Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek b.H.: Rowohlt 1995,
S. 453–478, zit. S. 456.
36 S.
die Bildtafeln 4, 5, 7, 8, 10 sowie die Einträge unter „Masse“ im Schlagwort-Register
der Illustrationen in: [GG 474].
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur